
3.8.2022
Selbst
Zur Zeit des Dichters Homer waren die Menschen Befehlsempfänger der Götter und keine autonomen, zur eigenen Entscheidung fähigen Individuen.
Augustinus (354-430) schreibt: „Nimm nichts an, wenn du es nicht in dir selbst gefunden hast.“ Es kommt aber vor, daß andere in uns Fähigkeiten entdecken, die wir selbst noch nicht erkannt haben. Das habe auch ich erfahren.
Hat Augustinus das „Cogito“ des René Descartes (1596-1650), das Grundmotiv neuzeitlicher Subjektivität vorweggenommen?
Augustinus geht sogar noch weiter und formuliert: „Gehe nicht nach außen, kehre in dich selbst zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“ Es geht um das wahre Erkennen seines eigenen Selbst. Als Suchender erfährt der Mensch erst in seinem Innersten das Andere, das Absolute, das Alleine, also letztlich Gott.
In jungen Jahren habe ich von dem profitiert, was andere in mir gesehen und mir zugetraut haben. So bekam ich Aufgaben übertragen, die zu übernehmen ich von mir aus nie gewagt hätte. In Limburg wurde ich zum Beispiel Zeremoniar, obwohl ich nie Meßdiener gewesen war. Nach meiner Zeit als Bezirksvikar wurde ich Spiritual im Collegium Borromaeum in Münster, eine Aufgabe, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte.
Es gibt das menschliche Verlangen, sich mit etwas zu verbinden, was größer ist als der Mensch selbst. In der Meditation erkennt er, daß er keine isolierte Einheit, sondern unauflöslich mit der gesamten Schöpfung verbunden ist. In Worte fassen läßt sich ein solches Erleben nicht. Es herrscht ein Gefühl der Zeitlosigkeit und der Unendlichkeit. Die Mystiker erkennen, daß der Geist ein Fenster ist, durch das man, wenn auch nur flüchtig, die absolute Wirklichkeit von etwas wahrhaft Göttlichem ausmachen kann. Heilige haben die Verbindung ihres Selbst mit Gott erfahren.
Nikolaus von Kues (1401-1464)
Gott, wie wirst Du Dich mir geben, wenn Du mich nicht mir selbst gibst? - Wenn ich im Schweigen der Betrachtung ruhe, antwortest Du mir Herr, tief in meinem Herzen und sagst: Sei du dein, und ich werde dein sein!
O Herr, Du Beglückung in aller Wonne, Du hast es zur Sache meiner Freiheit gemacht, daß ich mein sein kann, wenn ich es nur will. Gehöre ich nicht mir selbst, so gehörst auch Du nicht mir. Du nötigst insofern meine Freiheit, da Du nicht mein sein kannst, wenn ich nicht mein bin. Und weil Du das in meine freie Entscheidung gelegt hast, nötigst Du mich nicht, sondern erwartest, daß ich selbst erwähle, mir zu gehören.
Teresa von Avila (1515-1582)
O Seele, suche dich in Mir,
und, Seele, suche Mich in dir.
Die Liebe hat in Meinem Wesen,
Dich abgebildet treu und klar,
kein Maler läßt so wunderbar,
o Seele, deine Züge lesen.
Hat doch die Liebe dich erkoren
als meines Herzens schönste Zier:
bist du verwirrt, bist du verloren:
o Seele, suche dich in Mir.
In meines Herzens Tiefe
trage Ich dein Porträt,
so echt gemalt;
sähst du, wie es vor Leben strahlt,
verstummte jede bange Frage.
Und wenn dein Sehnen
mich nicht findet,
dann such' nicht dort und such'
nicht hier: gedenk, was dich
im Tiefsten bindet,
und Seele, suche Mich in dir.
Du bist mein Haus und meine
Bleibe, bist meine Heimat für und
für: Ich klopfe stets
an deine Tür,
daß ich kein Trachten
von mir treibe.
Und meinst du, ich sei
fern von hier,
dann ruf Mich, und du wirst
erfassen, daß Ich dich keinen
Schritt verlassen:
und, Seele, suche Mich in Dir.
(Übersetzung: Erika Lorenz 1923-2003)