
15.10.2018
Sinnvolles Leben durch volle Sinne
Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast. (Psalm 139, 14)
Sicherlich möchte jeder von uns ein sinnvolles Leben führen, und junge Menschen haben keine dringlichere Frage als die nach dem Sinn des Lebens. Eine Antwort könnte lauten: „Ich erlebe mein Leben als sinnvoll, wenn buchstäblich meine Sinne voll sind, voller Wahrnehmungen von meiner Innen- und Außenwelt.“
Unsere Sprache zeigt sehr deutlich, daß die Sinne etwas mit der zwischenmenschlichen Kommunikation zu tun haben. Wir sagen zum Beispiel: „Du schmeckst mir nicht“, „bleib mir von der Pelle“, „ich kann dich nicht riechen“, „geh mir aus den Augen“.
In der deutschen Sprache gehören die Begriffe „Sinn“ als eine Qualität unseres Geistes und „Sinne“ als eine Erfahrung unseres Leibes zusammen.
Unsere Zivilisation bringt es mit sich, daß unsere Sinne immer mehr abstumpfen. Auch im religiösen Bereich finden sie immer weniger Anwendung. So betrachten wir zum Beispiel das Gebet zu sehr als eine Sprache der Seele mit Gott. Uns ist kaum noch geläufig, daß für den hl. Franz von Assisi alle Sinne dem Beten Ausdruck verliehen. Wie hätte er sonst den Sonnengesang dichten können. Nicht nur das Hören mit den Ohren und das Schauen mit den Augen waren für ihn wichtig, sondern, so berichtet sein Biograph, der hl. Bonaventura, „er schien – beim Beten – vor Wonne und Köstlichkeit die Lippen zu lecken“. Zur Betrachtungsmethode des hl. Ignatius von Loyola gehört immer auch die „Anwendung der Sinne“.
Der Mensch ist eine Einheit von Leib und Seele sowie von Leib und Geist. Wir haben nicht nur einen Leib, sondern wir sind Leib. Wir haben nicht nur Sinne, sondern sind sinnenhafte Wesen – und das so sehr, daß der Theologe Thomas von Aquin sagen konnte: „Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen ist.“ Es war der Philosoph Aristoteles, der vor zweieinhalbtausend Jahren als erster von fünf Sinnen sprach: Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. Unsere Sprache verrät noch mehr Sinne, wenn wir zum Beispiel vom „Gleichgewichtssinn“ und vom „Spürsinn“ sprechen sowie vom „Sechsten“ oder sogar „Siebten Sinn“.
Unsere Sinne helfen uns, unsere durch die Haut gegebene Begrenzung zwischen Innen und Außen zu überwinden. Unser Wahrnehmungsabstand wird in Bezug auf die einzelnen Sinne immer größer: Schmecken vollzieht sich fast noch in unserem Inneren; Fühlen und Tasten geschehen an und mit unserer Haut; Riechen reicht schon etwas weiter nach außen; noch weiter reicht das Hören, je nach Stärke des Tones bis zu mehreren Kilometern weit; am weitesten reicht unser Sehen, es gelangt bis zu den Sternen.
Die Eingrenzung durch die Haut bedeutet für uns Menschen einen Mangel. Wir können nur zur Vollendung finden, wenn wir von uns selbst aufbrechen und uns dem anderen zuwenden. Das ist nicht nur ein geistiger Vorgang, sondern daran sind auch unsere Sinne beteiligt. Da dies für uns Menschen so wichtig ist, heilt Jesus nicht nur unsere Seele, sondern auch unsere Sinne: Er läßt uns wieder sehen, hören, sprechen und gehen.
Größere Wachheit in allen Sinnen wird zu einer leibgeistigen Erfahrung von Freiheit; denn nur so können wir den Mangel, der in unserer Begrenzung liegt, überwinden.
Es gibt auch die Leibfeindlichkeit, wenn wir uns zum Beispiel mit unserem Leib und unseren Sinnen nicht annehmen können oder wollen und dadurch in uns etwas abtöten. Frei, offen, durchlässig und aufnahmebereit zu werden, ist aber verbunden mit gesteigerter und nicht mit unterdrückter Leiblichkeit. Teilhabe an dem göttlichen Leben bedeutet Überhöhung der Leiblichkeit, nicht deren Abwertung. Die Auferstehung geschieht mit einem verklärten Leib. Die Bilder der Heiligen Schrift drücken die himmlische Wirklichkeit in einer verwandelten Geist-Leiblichkeit aus.
Friedrich Dörr
Kündet allen in der Not:
Blinde schaun zum Licht empor,
Stumme werden Hymnen singen,
Tauben öffnet sich das Ohr,
wie ein Hirsch die Lahmen springen.
Siehe auch „Meine Veröffentlichungen“ – „Der Sinn unserer Sinne“.