14.5.2021

Spieglein, Spieglein ...

 

 

Bevor die Menschen den Spiegel erfanden, diente ihnen auch das Wasser als Spiegel.

 

 

Vielleicht sollten wir öfter einmal etwas in­ten­siver in einen Spie­gel schauen, um Neues in uns zu ent­decken, ganz gleich ob es ein Metall- oder Kristallspiegel oder eine spiegelnde Ober­fläche des Wassers ist. Dabei besteht wohl kaum die Gefahr, sich wie Narziß tödlich in das eigene Spiegelbild zu ver­lieben.

 

 

 

Sven Grüttefien
Die narzisstische Mutter
Beschreibung der Eigenschaften und Verhaltensweisen einer narzisstischen Mutter und wie Sie sich aus der emotionalen Verstrickung befreien können
Umgang mit Narzissten

Link zum Buch

 

 

 

 

Als Ordensschwestern noch keinen Spiegel haben durften, überprüften sie manchmal in einer Wasserpfütze, ob ihr Schleier richtig saß.

Die Erde gilt als Blauer Planet.

Griechische Philosophen sahen in der beruhigten glatten See das beste Bild für den befriedeten Menschen.

 

 

In einer Zen-Geschichte sprach der Meister zu seinem Schüler: „Zehnmal bist du zum Fluß gegangen, hast Wasser geschöpft und doch keinen Tropfen zu mir gebracht. Aber schau dir den Korb an, der ist jetzt ganz rein.“
Der Schüler erkannte, welche Reinheit das Wasser hat. Dann sollte er zum Brunnen gehen und hineinschauen und sagen, was er sehe. „Ich sehe mich“, sagte der Schüler.

 

Im zweiten Lebensjahr können Kinder sich selbst als Objekte in den Augen der anderen vorstellen. Das zeigen jene berühmt gewordenen Experimente, bei denen man Kinder ohne ihr Wissen mit einem auffallenden Farbklecks im Gesicht markiert und dann vor einen Spiegel gesetzt hat. Sie haben sich direkt selbst erkannt. Selbstwahrnehmung vor dem Spiegel verweist auch auf die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Absichten und Gefühle nachzuempfinden. Wer sich nicht selbst wahrnehmen kann, dem mangelt es auch an der Kompetenz, Verhalten einander anzupassen. Spiegelneuronen sind ein Aspekt der Empathie.

 

Für ein Kind ist das Gesicht der Mutter ein Vorläufer des Spiegels: Wenn ich gesehen werde, bin ich.

Beim Spaziergang stelle ich sehr oft fest, daß Eltern den Kinderwagen schieben, aber nicht bemerken, daß das Kind vergeblich ihren Blick sucht; denn sie schauen auf ihr Smartphone. Wenn Eltern den digitalen Medien mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Kindern, kann das fatale Folgen haben. Es sind die Augen, die aus einem Allerweltseindruck ein Antlitz machen, das sich so tief einprägt, daß es nicht verwischt werden kann. „Fenster zur Welt“ und „Spiegel der Seele“ werden sie genannt. Sie können verräterisch blicken, aber auch wie Spione versteckt forschen.

Das Antlitz des Menschen als ausdrucksfähigster Teil seines Leibes spiegelt die Person im eigentlichen Sinn. Eine Frau erzählte: „Als ich mich als Kind oft im Spiegel betrachtete, sagte man mir, eines Tages werde ein Affe herausschauen und mich anfeixen.“

Der Spiegel ist ein Medium des Erkennens und des Wiedererkennens. Auf der spiegelnden Oberfläche treffen wir auf unser Ich. Unser Gesicht selbst ist ein Spiegel; denn sein Ausdruck verrät viel über unsere Verfassung. Freude oder Verärgerung zeigen sich am ausdrucksstärksten in unseren Augen. Man sollte hier und da kritisch in den Spiegel schauen.

„Ein Spiegel, dann erkennst du Fluch und Hölle / dein Ich und alles, diese ganze Völle / von Nichts, die er dir flach entgegenhält.“ (Franz Werfel 1890-1945)

So kann der Spiegel zum geheimen Berater werden und die negativ besetzte Redewendung „Jemandem den Spiegel vorhalten“ umwandeln in „Sich selbst den Spiegel vorhalten“.

 

 

Über allem aber steht der Ausspruch des Apostels Paulus aus dem Korintherbrief: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (1 Kor 13,12)