
Totengedenkbrett bei Grafrath. Die Inschrift: „Die Toten rufen uns zu: ‚Das was ihr seid, das waren wir. Und das was wir sind, das werdet ihr noch sein.‘“
2.11.2022
Totenbretter als Brücken in den Himmel
Als Theologiestudent war es ein Traum von mir, meine Freisemester in Salzburg zu verbringen. Aber das war für meine Verhältnisse zu teuer, und so studierte ich in den zwei Semestern 1960/1961 in München.
Meine erste Trampfahrt von München aus hatte das Ziel Salzburg. Ich hatte das große Glück, daß der Volkskundler Paul Ernst Rattelmüller (1924-2004) anhielt und mich mitnahm. Er wies mich auf viele volkskundliche und kulturelle Besonderheiten in Oberbayern und Umgebung hin. Als erstes zeigte er mir sogenannte Totenbretter und erklärte mir ihre Bedeutung.
Wenn früher jemand gestorben war, wurde er in der Stube des Hauses auf einem 30 cm breiten und knapp 2 m langen Brett aus Fichtenholz, dem Totenbrett, aufgebahrt. Dort wurde gebetet, gesungen und auch gegessen. Nach drei Tagen wurden die Toten in einen Sarg gelegt. Zuvor küßte man die Stirn oder drückte die kalte Hand. Das Totenbrett wurde zu Hause auf dem Hof oder auf dem Friedhof aufgestellt. Künstler gestalteten es zum bleibenden Gedenken je nach dem Vermögen der Angehörigen.
Das Totenbrett verband sich mit einer symbolischen Deutung, die uns heute sehr fremd anmutet. Entsprechend dem damaligen Jenseitsglauben blieb der Tote solange im Fegefeuer, bis das Totenbrett vermodert war. Um den Vorgang zu beschleunigen, wurden die Totenbretter der Witterung ausgesetzt oder ins Wasser geworfen.
Es entwickelte sich aber auch die Tradition, an die Verstorbenen zu erinnern. Deshalb schrieb man die wichtigsten Lebensdaten auf das Holz.
Später geriet der Brauch des Totenbrettes in Vergessenheit, weil die Aufbahrung zu Hause durch die Einrichtung der offenen Leichenhallen nicht mehr üblich war.
Inzwischen erinnert man sich im Bayerischen Wald wieder an die alte Tradition und gibt wieder Totenbretter in Auftrag.
Aus dieser ersten Begegnung mit Paul Ernst Rattelmüller erwuchs eine lebenslange Freundschaft mit ihm und seiner Familie. Ich lernte Oberbayern kennen wie kaum ein Einheimischer. Er und seine Frau waren auch bei meiner Primiz in Kleve dabei.
Paul Ernst Rattelmüller habe ich beerdigt. Er hat kein Totenbrett bekommen.
Familiengrab in Rieden