24.5.2019

Erspüren der Hände

Ich setze mich bequem hin, so daß ich beide Hände frei bewegen kann. Ich möchte meine Hände bewußt erleben und sensibel für sie werden. Wie erspüre ich meine Hände?

Ich balle eine Hand zur Faust und achte auf die ständig stärker und unangenehmer werdende Spannung in der Hand. Welche Stimmung steigt in mir hoch? Ich öffne langsam die Faust, achte auf das Nachlassen der Spannung und genieße das angenehme Gefühl der Entspannung.

Ich biege die Finger einer Hand nach in­nen und öffne sie dann wieder. Was löst die so geöffnete Hand in mir aus? Ich erspüre mit ihr das Licht, die Luft und die Temperatur.

Ich erspüre meine Hände, indem ich mit den Fingern spiele und auf die Bewegungen und Fingerstellungen achte.

Ich schaue meine Hände von innen und von außen an und nehme ihre Form wahr. Habe ich einen großen oder kleinen Handteller, lange oder kurze Finger? Die Innenhand durchziehen Linien; wer diese Schrift versteht, kann in der Hand lesen.

Ich lege die Hände in den Schoß, schließe die Augen und nehme mich im Leib wahr. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf meine Hände, nehme Fühlung mit ihnen auf und erspüre die Empfindun­gen, die aus meinen Händen kommen.

Wie ist die physische Beziehung zwischen meinen Händen? Besteht eine Wechselbeziehung zwischen ihnen? Ich bewege meine Hände ein wenig, lasse sie aufeinander einwirken und eine stille Unterhaltung miteinander führen. Ich stelle mir vor, daß ich selbst die rechte Hand bin und leise zur linken spreche. Wie fühle ich mich als rechte Hand, wie unterscheidet sie sich von der lin­ken? Jetzt identifiziere ich mich mit der linken Hand und spreche mit der rechten.

Wie ergeht es mir, wenn ich zu den sechs Millionen Linkshändern in Deutschland gehöre, in einer Gesellschaft von Menschen, wo alles auf Rechtshänder aus­gerichtet ist. Was empfinde ich bei den Formulierungen „zwei linke Hände haben“ oder „linkisch sein“?

Wie schwer hatten es Linkshänder noch bis weit in die 1970er Jahre hinein, wenn man sie in der Schule unbedingt auf das Schreiben mit der rechten Hand umstellen wollte. Nicht wenige Kinder erlitten dadurch seelische Verletzungen und scheiterten an der gewählten Schullaufbahn. Vor 25000 Jahren waren noch beide Hände gleichberechtigt; was später als „Handhabbares“ erfunden wurde, war auf die „rechte“ Mehrheit ausgerichtet.

Was tue ich im Laufe eines Tages mit meinen Händen? Ich nenne Tätigkeiten, die mir einfallen. Die­nen meine Hände anderen Menschen? Was empfange ich durch meine Hände? Gebe ich mit ihnen Liebe weiter?

Habe ich lebhafte Handgesten, spreche ich mit den Händen, verkrampfe ich meine Hände einzeln oder beide bei Ge­sprächen, bei Unruhe? Habe ich stumme oder mitteilsame Hände? Wie gebe ich die Hand, nehme ich den andern damit an?

Drohe ich leicht mit der Hand? Erhebe ich gerne mahnend den Zei­gefinger? Balle ich die Faust in der Tasche? Kann ich mit meiner Hand zärtlich sein? Habe ich mich schon mit der Hand verteidigt, gestraft oder zerstört? Spiele ich Musikinstru­mente oder Gesellschaftsspiele? Schreibe ich gerne mit der Hand, oder bekomme ich dabei leicht einen Krampf? Nehme ich einen Spazierstock, Wanderstock oder Stockschirm zur Hand? Liebe ich es, mit den Fingern mit etwas zu spielen? Trommle ich mit den Fingern auf die Tischplatte? Habe ich schon mit der Hand geschworen oder beim Schreiben gelogen? Habe ich schon jemandem die Hände aufgelegt? Habe ich mit der Hand schon gesegnet?

Wann und wie habe ich im Rückblick auf mein Leben Hände erfahren? Am Anfang waren es vermutlich vor allem Frauenhände, vorab die der Hebamme und dann die der Mutter, die mich hegte und pflegte.

Wie mag mein Vater mich berührt haben? Ob ältere Geschwister mich versorgten und beschützten? Wie begegneten mir meine Verwandten? Was weiß ich von meiner Kindergärtnerin, von meinen Lehrern? Wer legte beruhigend und tröstend seine Hand auf meinen Kopf? Wer streichelte mich? Wieviele Hände arbeiten und beten für mich?

Für mich persönlich wurde die Mutterhand zur urmenschlichen Geste der Ordnung. Wenn ich aus einem bösen Traum er­wachte, strich sie mir über den Kopf und sprach mir Trost zu: „Hab keine Angst, es ist alles wieder gut!“

Du aber,
der Du ihm
auf jeder Straße begegnest,
der Du ihm
das Brot brichst, ...
lege Deine Hand
schützend
auf den Kopf eines Kindes,
lasse sie küssen
von dem zärtlichen Mund
der Geliebten ...
daß sie ... untauglich wird
zu jedem Handgriff
beim Bau von Stacheldrahthöllen ...
Damit,
wenn am letzten Tag
sie vor Dir
auf der Bettdecke liegt,
wie eine blasse Blume ...
Du ihr dankst
und sagst
Lebe wohl,
meine Hand.
Du warst ein liebendes
Glied
zwischen mir und der Welt.
(Hilde Domin 1909-2006)

 

Übungshilfe zum Erspüren der Hände