
1.5.2022
Unsere Marienfrömmigkeit - unser Frauenbild
„Ein Christ ist kein Christ!“; denn Kirche ist Gemeinschaft. Kirche ist aber nicht nur Gemeinschaft aller Christen auf Erden, sondern bewußt gelebte Gemeinschaft mit den Heiligen, mit allen in Gott Vollendeten, und dazu mit denen, die der Läuterung bedürfen, um in die Anschauung Gottes zu gelangen.
Die Tradition spricht von der streitenden, triumphierenden und leidenden Kirche. In den Heiligen war Gottes Geist am Werk. Sie sind Maßstäbe für den Geist Gottes im Leben des Menschen. Gottes Geist und Wille lassen sich in den Vollendeten, um deren Gnadengaben wir wissen, konkret erfahren und betrachten.
Was meinen wir, wenn wir Maria, nicht nur als eine Heilige unter vielen verehren, sondern als die Königin der Heiligen und auch der Engel? Ist sie nicht oft eher eine himmlische Gnadenspenderin als eine Schwester der Glaubenden (vgl. GL 1996, 783,5)? Vorbildhaft sind ihre Glaubenshaltung und ihre Bereitschaft, für Gott fruchtbar zu werden.
Marias Hören bleibt nicht passiv, sondern bedeutet die Übernahme eigener Verantwortung, aus der sie sagen kann: „Mir geschehe nach deinem Wort!“ Maria wird dann später die Jüngerin ihres Sohnes.
Was Maria ist und was sie bedeutet, wird durch ihr Verhältnis zu Christus bestimmt. Maria ist nie losgelöst von Christus, daher findet man in der Ostkirche auch keine Marienabbildung ohne Christus. Eine Ausnahme bildet die sogenannte Deisis, wenn diese nicht auf einer, sondern auf drei Ikonen dargestellt wird.
Die Deisis zeigt Maria und Johannes den Täufer mit Jesus. Johannes und Maria sind dauerhafte Hinweise auf die Geschichte Gottes mit den Menschen; beide binden Jesus nicht an sich, sondern verweisen auf ihn und bringen mit ihm in Berührung, Maria als Magd des Herrn, Johannes als Vorläufer des Herrn. All das ist Bild für die Kirche, die immer in Gefahr ist, sich selbst für das Reich Gottes zu halten.
Im Westen gibt es die Darstellung Mariens ohne Jesus erst seit den Erscheinungen in Lourdes und Fatima.
In der Marienfrömmigkeit erscheint mir noch ein anderer Aspekt wichtig. Für die menschliche Geschlechtlichkeit dient die jungfräuliche Gottesmutterschaft Mariens als Vorbild. Da kommt eine Frau zu einem Kind ohne all das, was eigentlich dazugehört, von der lustvollen Zeugung bis zur schmerzlichen Geburt. Es gibt heute wie noch nie zuvor in der Christengeschichte Grundlagen für eine grundsätzlich positive Einstellung zur menschlichen Geschlechtlichkeit als ganzer. Geschlechtlichkeit ist nicht als bedenklich verhängnisvolles Grundverhalten mit bestimmten engen Legitimationen zu verstehen, sondern als positive Grundwirklichkeit mit gewissen Normen und Grenzen. Das Marienbild der Mädchen- und Frauenseelsorge der Vergangenheit hat sich an dem negativen Geschlechtsverständnis orientiert.
Maria ist spätestens seit Ambrosius ein weibliches Wesen, bei dem Geschlechtlichkeit kein Erfahrungsinhalt ist. Vorbild für die Mädchen und Frauen wird so eine Jungfräulichkeit, deren Ideal im Nichtvorhandensein irgendwelcher geschlechtlicher Empfindungen besteht. Kann das etwa ein Leitbild der Frau sein?
Wenn Jungfräulichkeit, dann aber nicht als Abwertung des Geschlechtlichen, sondern als Ausdruck des Besonderen der Berufung. Wie sieht eine Maria aus, deren Geschlechtlichkeit voll in die gottgegebene Berufung eingegangen ist? Kann Marienverehrung helfen, daß eine Frau auch etwas anderes sein kann als Jungfrau oder Mutter?
Es ist bedenklich genug, das als Heilige verehrte Frauen nur Martyrerinnen, Jungfrauen oder Witwen sind. Gibt es denn nicht auch heilige Mütter und Ehefrauen?
Maria ist nicht das Weibliche in Gott, sondern der Mensch als Frau im Christusgeheimnis. Lukas ist nicht nur der Evangelist der Armen, sondern auch der Frauen. Seine Sozialkritik mag auch die Frauen einbezogen haben. Er wertet die Frauen auf, indem er sie in die engere Begleitung Jesu bringt (vgl. Lk 8, 1-3 und Lk 23,49).
Lukas stellt Maria neben Zacharias und Hanna neben Simeon. Wenn das Magnifikat unter diesem Gesichtspunkt gelesen wird, dann ist da von der Erniedrigung der Magd die Rede und vom Sturz der Machthaber. Es geht um einen messianischen Umsturz der männlichen Macht über die Frau. Wo Geschlechterverhalten die Gestalt von Macht und Unterjochung hat, ist es von Christus umgestürzt. Und selbst eine patriarchal strukturierte Kirche läßt die Mutter Jesu eine bevorzugte Rolle an der Seite Jesu zukommen.
Die Kirche braucht Maria, wenn die Göttlichkeit des Menschensohnes einseitig betont wird, um das Defizit an Menschlichkeit in der patriarchalen Männerkirche auszugleichen, und wenn der Schmerzensmann am Kreuz das Gegenstück in der glorreichen Himmelkönigin verlangt.
Wenn Jesus Menschenbruder wird, kann Maria entlastet und wieder zur Schwester der Glaubenden und als solche oder auch als unsere liebe Frau verehrt und geliebt werden.
Wenn Feministinnen Maria zur großen kosmischen Mutter machen wollen, kommt sie wieder in die Rolle der Göttin.
In der jungfräulichen Mutterschaft Mariens kann die selbständige Frau schlechthin gesehen werden, die menschliche Person, die durch ihr Stehen in Gott vollkommene Selbständigkeit erlangt hat. Wenn Frauen sich heute selbst definieren und das nicht in Abhängigkeit vom Mann, liefert das biblische Marienbild dafür eine Stütze.
Für mich ist Maria vor allem ein lebendiges Beispiel für den Zusammenfall der Gegensätze. Sie ist Jungfrau und Mutter zugleich. Insofern stellt sie für mich eine Hoffnungsgestalt vor allem in bezug auf eine Versöhnung von Geschlechtlichkeit und Gottesbeziehung dar.
In der Anbetung setzen wir uns dem großen Gott aus, der Mensch geworden ist in Jesus Christus durch Maria und uns nahe sein will in der Gestalt des Brotes. Welch ein Weg von Gott bis auf unseren Altar, den geistlichen Mittelpunkt unseres Hauses. Ohne das Ja Mariens hätte Gott diesen Weg nicht gehen können.
Wie wichtig nehmen sich die Männer in ihrer Männerkirche; denn als solche erscheint sie vom Amt aus betrachtet. Was ist zu tun, damit nicht noch mehr Frauen die Kirche verlassen und die Männer schließlich alleine dastehen.
Möge uns der Maienmonat mit seiner Marienfrömmigkeit helfen, die Gleichwertigkeit des Weiblichen neben dem Männlichen in der Schöpfung, in der Welt und auch in der Kirche zu erkennen und zu leben!
Predigt in Billerbeck
Anschlußpredigt an die Predigt vom 6. Februar 2022 in Billerbeck
Anlaß: 3. Ostersonntag im Jahreskreis C
Ich durfte im Februar predigen, als es im Evangelium um den großen Fischfang ging. Fischer hatte Jesus als Apostel um sich gesammelt. Heute ist im Evangelium wieder von einem Fischfang die Rede, aber das nach der Auferstehung Jesu. Wir hörten im Evangelium: „Aber in dieser Nacht fingen sie nichts. Als der Morgen dämmerte, stand Jesus am Ufer.“ (Joh 21,3f)
Es war nach der Kreuzigung Jesu. Was sollten die Jünger machen? Sie gingen wieder zurück in ihre Beschäftigung als Fischer, die sie ausgeübt hatten, bevor sie Jesus getroffen hatten und ihm gefolgt waren.
Dann stand Jesus am Ufer und sagte zu ihnen: „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus, und ihr werdet etwas fangen.“ (Joh 21,6) 153 große Fische waren danach im Netz, aber die Jünger erkannten Jesus zuerst nicht.
Solch eine ähnliche Szene gab es schon einmal in Petrus‘ Leben. Sie endete mit dessen Worten: „Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen“ (Lk 5,5).
Oft gehörte Worte nehmen wir zu selbstverständlich, um noch zu begreifen, was sie im Tiefsten aussagen. So geht es uns in vielen Fällen auch mit Bibelworten.
Wo und wann weiß ich in meinem Leben, wie es zu laufen hat und tue etwas wider dieses Wissen, weil Jesus es mir sagt? Habe ich den Mut dazu? Habe ich Angst, von anderen deswegen für verrückt erklärt zu werden? Was passiert, wenn ich Gott beim Wort nehme? Es kann alles anders laufen, als ich es errechnet habe. Unabsehbar wird unser Leben, wenn wir es nach Jesu Wort ausrichten. Trauen wir Gott alles zu? Hegen wir Mißtrauen? Wollen wir unser Fachwissen einbringen? Ist bei Gott alles möglich? Halten auch wir es für möglich, daß er einen Sünder zum Menschenfischer macht? Vielleicht müssen wir angesichts unserer Fähigkeiten verzagen. Wer könnte heute von sich aus den Ordens- oder Priesterberuf wählen? Würde ich es heute bei der Situation der Kirche nochmals tun? Ich persönlich bin froh und dankbar, daß ich Priester sein darf. Die Kirche tut viele wichtige Dinge für die Menschen. Aber zu kurz kommt, was Karl Rahner schon 1966 formuliert hat: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Die Gottesdienste müßten mehr das Herz treffen als den Kopf, und die Menschen müßten die Sprache Gottes lernen.
Bischof Franz-Josef Overbeck beendete am 31. Oktober 2021 eine Predigt im St. Petri-Dom in Hamburg dem Sinn nach mit folgenden Sätzen: Die Kirchen müßten mehr zu Orten der Kontemplation, der Begegnung, des Gesprächs und des Mitteilens der Erfahrung von Glauben werden. Das Christentum der Zukunft ist nicht mehr auf territoriale Pfarreien und Gemeinden begrenzt, es müßten „Zentren von Spiritualität, von geistlicher Begleitung, von Erfahrungsräumen im Glauben“ entstehen.
Was Bischof Overbeck sich wünscht, darf ich schon lange leben. Die meiste Zeit meines Priesterlebens war ich Spiritual und durfte junge Männer auf dem Weg zur Priesterweihe begleiten. Viele von ihnen begleite ich heute noch und bemühe mich, Erfahrungsräume im Glauben zu schaffen. Vor allem in der Eucharistiefeier müßten wir die Anwesenheit des Göttlichen erfahren können, Nicht nur unser Kopf, sondern auch unser Herz müßte getroffen werden.
Als ich im Fernsehen eine Messe in Limburg verfolgte, freute ich mich über die Art, wie der Priester die Messe feierte. Später kamen Rückmeldungen, die vor allem ein Lob zur Predigt waren. Eine Frau freute sich über die meditative Art, in der der Priester zelebriert hatte. Meditativ zu zelebrieren, ist auch mein Bemühen.
Während des Konzils 1964 geweiht, habe ich noch die sogenannte „Alte Messe“ gefeiert. Das möchte ich heute nicht mehr. Aber in den Gottesdiensten war damals mehr Heilges zu erfahren als heute. Gotteshäuser sind mehr als Versammlungsräume, sie sind steingewordener Glaube. Ich kenne viele Menschen, die zu Hause eine Gebetsecke haben und dort täglich meditieren. Ich freue mich, daß im Priesterseminar in Münster der Meditationsraum, den ich vor 48 Jahren dort für die morgendliche Meditation der Studenten einrichten ließ, auch heute noch dementsprechend genutzt wird.
Wie Petrus einen Auftrag erhält, so könnte Jesus uns sagen: „Ruht euch ein wenig aus und lauscht in der Stille der Sprache Gottes, der ,Stimme verschwebenden Schweigens‘“, wie Martin Buber (1878-1965) es formulierte. Im Lärm der Zeit müßten wir stiller werden, um Ihn zu hören und Ihm dann zu folgen.
In der Urkirche wurden die Christen verfolgt und getötet. Als das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion im Römischen Reich wurde, gab es wesentlich weniger Bekenner und Martyrer. Die Christen machen heute nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland aus. Womöglich hat sich das Christentum im Laufe der Zeit dem Durchschnitt der Bevölkerung viel mehr angepasst, als ihm guttut.
Es ist großartig, was die Kirche alles in der Welt leistet. Das können aber auch andere Gruppierungen, und es verführt leicht zu religiöser Gedankenlosigkeit und Distanzierung.
Wer sich den letzten Fragen von Leben und Sterben, Sein und Zeit, Endlichkeit und Ewigkeit zuwendet, wer das Besondere liebt und sich von den anderen unterscheidet, entdeckt Jesus Christus wie die Jünger beim Fischen: „Als der Morgen dämmerte, stand Jesus am Ufer.“