
28.6.2021
Was ist für mich Freiheit?
Wenn ich ICH SELBST sein kann
Das erste Mal war das in Limburg an der Lahn bei den Pallottinern (SAC) im Bischof-Vieter-Kolleg (BiViKo) der Fall. Obwohl wir jungen Schüler gefängnisähnlich lebten, das heißt ohne Hausschlüssel und mit dem Verbot, alleine in die Stadt zu gehen, fühlte ich mich dennoch frei, weil ich meinen Weg gehen konnte.
Vom 29. April bis zum 13. Mai 1951 fand in Kleve Christus-König eine Volksmission durch Pallottiner-Patres (SAC) statt. Ich war morgens um 6.00 Uhr in der ersten Predigt, um 7.00 Uhr als Maurerlehrling auf dem Bau zur Arbeit und um 20.00 Uhr nochmals in einer Predigt. Die Patres berichteten von ihrem Kolleg in Limburg. Nach dortiger vierjähriger Vorbereitung konnte man das staatliche Abitur auf dem Limburger Gymnasium machen, gleichsam ein G6-Abitur, um dann Novize in Olpe zu werden.
Somit brach ich am 21. April 1952 nach Limburg auf, machte mich unabhängig von meiner Familie in Kleve, verbrachte nur noch einen Teil meiner Ferien dort und nahm mein Leben selbst in die Hand.
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Meinen Namenstag habe ich 1952 zum ersten Mal in Limburg begangen. In meiner Familie wurde nur Geburtstag gefeiert. Ich habe mich damals entschlossen, am 24. Juni, dem Fest Johannes des Täufers, zu feiern.
Als Ausnahme von der „Gefangenschaft“ im Kloster wurde mir Unerwartetes zuteil. Ich bekam bei einer Familie in Limburg ein richtiges Zuhause.
Einer meiner Lehrer bat mich, dem Schüler Klaus Sobotta Nachhilfeunterricht in Mathematik zu geben, eine Aufgabe, die ich gerne übernahm. Klaus‘ letzte Arbeit war mit „mangelhaft“ benotet. Ich freute mich sehr, als er am 1. Februar 1957 zu mir kam und mir stolz seine Mathearbeit mit der Note „gut“ präsentierte.
Seine Familie Arthen-Sobotta in der Gerlachstr. 1 nahm mich wie ein Familienmitglied auf. In den Semesterferien und auch später auf der Fahrt in den Urlaub machte ich oft einen kurzen Besuch bei Familie Sobotta.
Als Kaplan habe ich Klaus und Uschi Sobotta getraut.
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Ich wurde kein Pallottiner, weil mir gerade das Katholischsein (altgriech.: καθολικός katholikós = allumfassend) eng genug war und ist. Da mußte ich nicht noch in einem Kloster leben.
Vollständig ICH SELBST konnte ich in München in meinen Freisemestern sein.
Das dritte Studienjahr bestand für die Theologen aus zwei Außensemestern, die wir Studenten Freisemester nannten. Ich verbrachte sie in München und wohnte dort in der Schellingstraße 25 über dem Antiquariat Kitzinger, nahe der Ludwig-Maximilians-Universität.
In dieser Zeit lernte ich als Tramper auf dem Weg nach Salzburg den Volkskundler Paul Ernst Rattelmüller kennen, der mir Oberbayern und Südtirol nahebrachte, wie es kaum ein Bayer erleben kann. Bei Familie Rattelmüller fühlte ich mich zu Hause. Ich lernte ihr altes Wohnhaus in Oberlauterbach kennen und das 1964 neu gebaute in Leutstetten, dieses glich einem Heimatmuseum.
Als „Onkel Seeger“, wie mich der damals noch kleine Sohn Michael nannte, gehörte ich ganz zur Familie. Wie in Limburg bekam ich auch in Bayern ein Zuhause. Ich war jedes Jahr zu einem Urlaub dort. In der Familie Rattelmüller habe ich getauft, getraut und beerdigt.
Hochzeitsrede von Vater Paul Ernst Rattelmüller für seinen Sohn Michael und dessen Frau Erika
HochzeitMeiner Mutter ist nicht entgangen, wie wichtig die beiden Familien für mich waren. Zum silbernen Priesterjubiläum schrieb sie ein Gedicht, in dem die Familien genannt werden. Sie ließ es von meiner Kusine Ria bei der Feier im Borromaeum in Münster vortragen:
„Und danken wollen wir allen, die immer gut zu Dir waren, es waren so viele in all den Jahren. Ich kann sie nicht alle beim Namen nennen, weil ich sie nicht alle kenne. Doch in der ganz schweren Zeit waren Familie Rattelmüller und Sobotta gerne zur Hilfe bereit.“
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Limburg und München waren für mich Orte der Freiheit. Ganz ICH SELBST zu sein, habe ich in der Existential-psychologische Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte gelernt.
Die Bildungsstätte wurde 1951 von Dr. Maria Hippius-Gräfin Dürckheim (1909-2003) und Prof. Dr. Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988) gegründet.
Nach einem Meditationskurs bei Charlotte Urban im Priesterseminar in Münster vom 27. bis zum 30. Dezember 1972 hatte ich den Wunsch, Karlfried Graf Dürckheim in Todtmoos-Rütte kennenzulernen. Ich nahm dort vom 1. bis zum 5. Mai 1973 an einer „Einführungswoche“ teil und machte daraufhin eine Ausbildung in Initiatischer Therapie, verbunden mit einer Psychoanalyse. Über 300 Stunden Traumanalyse haben mich erfahren lassen, was in mir lebt. Als ich nach einem Traum berichtete, mit einem Lastwagen gegen einen Zaun gefahren zu sein, wurde ich gefragt, wie ich mit meinen Lastern umgehe.
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Im vergangenen Jahr war ich in München, um Abschied zu nehmen, so tat ich es in diesem Jahr an meinem Namenstag in Limburg. Nach der Pensionierung, die für Priester mit der Vollendung des 75. Lebensjahres erfolgt, fühle ich mich wieder völlig frei. Lebensorte können unter verschiedenen Gesichtspunkten wichtig sein. Wenn ich von Orten der Freiheit ausgehe, wurde nach München in den letzten Jahren auch Billerbeck ein Ort der Freiheit für mich. Das Alter macht es möglich, und ich lebe nach dem Motto des heiligen Martin: „Ich weigere mich nicht zu leben und fürchtete mich nicht zu sterben.“