
23.10.2021
Was ist Liebe?
Als Augustinus (354-439) gefragt wurde, was Zeit sei, antwortete er: „Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ Ähnlich geht es vielen Menschen mit der Liebe.
Erich Fromm
Die Kunst des Liebens
Ullstein-Verlag 2005
ISBN 978-3-548-36784-2
Liebe ist die Antwort auf eine zutiefst menschliche Sehnsucht. Sie vermag die Menschen sehr stark in Bewegung zu versetzen.
Zu Beginn einer neuen Liebe kommen manche Menschen noch einmal zur Welt.
Im Paradies erfuhr der Mensch das Einssein mit Gott. Aber statt dessen wollte er wie Gott sein und erlebte so die Trennung durch die Vertreibung aus dem Paradies.
Wir gehen aus der Einheit mit der Mutter hervor. Die erste Trennung erfahren wir in der Geburt. Wir sehen uns mit allem Existierenden konfrontiert und sehnen uns nach Einheit. Diese erfahren wir in der Liebe. Erich Fromm (1900-1980) formuliert: „In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, daß zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben.“ Durch die Liebe überwinden wir das Abgetrenntsein und bleiben doch ein Individuum.
„Eines zu sein mit allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden.“
(Friedrich Hölderlin 1770-1843)
Gott ist die Liebe. Somit unterscheidet die Liebe sich von allem Weltlichen und Irdischen. Wir können Gott nicht voll begreifen, er ist „fascinosum et tremendum – faszinierend und zugleich erschreckend“ (Rudolf Otto 1869-1937). So ist es auch mit der Liebe.
In einer Liebesbeziehung ist es schwer, dem Druck des alltäglichen Funktionierens zu widerstehen. Die sogenannten „Schmetterlinge im Bauch“ verflüchtigen sich bald, und das Alltägliche hält Einzug in die Beziehung der Liebenden. Wer an seinem Arbeitsplatz von morgens bis abends in den Kategorien von Soll und Haben denkt und handelt, hat er schwer, in seiner freien Zeit die Fähigkeit zum inneren Erfahren, Entzücken und Auskosten zu entwickeln, ohne die keine Liebesbeziehung wachsen kann.
Im Alltag gilt, wer etwas gibt, dem wird dafür etwas anderes gegeben. In der reifen Liebe jedoch sind Soll und Haben, sind Bekommen und Geben identisch. Wir bekommen im Leben gerade das geschenkt, was wir geben. Schenken wir Freude, bekommen wir eben diese Freude im Schenken geschenkt, wir werden froh, wenn wir froh machen. Wer an wirtschaftliches Denken gewöhnt ist, hat es schwer, sich in die paradoxe Übereinstimmung von Geben und Bekommen einzufühlen.
Viele Menschen fühlen sich zu Beginn einer Liebesbeziehung sehr lebendig und schützen eine Zeitlang ihre besondere Erfahrung der Liebe vor der Mentalität „wie Du mir so ich Dir“ des Tauschhandels, die nicht selten ihre anderen Beziehungen prägt. Wenn sie nicht fähig sind, sich dieses eingeübten Denkens zu entziehen, wird die Liebe nach und nach wieder unwichtiger. Leistungsstreben ist für viele Männer permanent angesagt und manche Frauen unterwerfen sich diesem Ansinnen.
Die Fähigkeit, Gefühle als innere Realität wahrzunehmen und die eigene Gefühlswelt in der Hingabe an den Partner zu gestalten, gilt es für eine gute Beziehung ständig weiterzuentwickeln.
P. David Vincent Stanislaus in seiner Predigt am 9. Mai 2021 in Billerbeck:
Liebe kann man nicht erlernen, man lernt sie nach und nach kennen, indem man sich selbst in dem anderen kennenlernt und sich selbst in den anderen hineinversetzt.
Christian Morgenstern (1871-1914):
Ich habe den Menschen gesehn in seiner tiefsten Gestalt,
Ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.
Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,
Und daß ich da, um immer mehr zu lieben bin.
Ich breite die Arme aus, wie ER getan,
Ich möchte die ganze Welt wie ER umfahn.
Laotse, TAO TE KING (LXXVI):
Weich und schwach wird der Mensch geboren.
Im Tode ist er hart und steif.
Grüne Pflanzen sind zart
und mit Lebenssaft gefüllt.
Verdorrt und trocken
sind sie im Tode.
So lernt der Starke,
Unbeugsame vom Tode,
der Sanfte, Nachgiebige vom Leben.
Unbewegliche Armee
Kann nie die Schlacht gewinnen.
Unbiegsamer Baum
Zerbricht im Sturm.
Das Harte und Starke wird fallen.
Das Weiche und Schwache wir überdauern.