26.6.2021

Was ist richtig? - Was ist falsch?

Was stimmt denn?

Es gibt nichts, von dem das Gegenteil nicht auch richtig oder falsch ist. Der Drang zur Eindeutigkeit ist Gefangenschaft.

Wenn man wissenschaftliche Bücher liest, stellt man nicht selten fest, daß in einem anderen Buch genau das Gegenteil behauptet wird.

So ist es auch in der Religion. Gibt es einen Gott oder gibt es keinen? Aber diese Fragestellung ist schon im Ansatz falsch. Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) meint: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Gott existiert weder als Subjekt noch als Objekt. Somit gibt es auch keinen Beweis für seine Existenz. Das Göttliche gehört zu einem Bereich, den wir nicht mit unserem Verstand erfassen können. Wir sind kein Gegenüber von Gott, und er ist kein Gegenüber von uns. Das ist nicht zu begreifen, aber wir dürfen es glauben, und Glauben ist mehr als Wissen.

In dem Märchen „Die Wahrheit und das Märchen“ weiß sich die nackte Wahrheit zu helfen.

„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ (Dschalal ad-Din Muhammad Rumi 1207–1273)

„Ich möchte eigentlich allmählich, nachdem ich soviel ge­schrie­ben und geredet habe, verstummen für den Rest meines Lebens, weil ja nichts wirklich stimmt, immer ist auch das Ge­genteil richtig.“ (Luise Rinser 1911-2002)

Die moderne Mystikerin Simone Weil (1921-2007) markiert den Punkt, an dem Menschenweisheit endet und das Mysterium beginnt: „Wenn man einen Gedanken gefaßt hat, solle man nach­for­schen, in welcher Hinsicht das Gegenteil wahr ist. Der Wider­spruch ist der Hebel zur Transzendenz. Erst in den Sack­gas­sen des Verstandes ereignet sich das Wunderbare. Denn der Mensch kann nicht durch eigene Bemühungen die Immanenz überschreiten.“ Diese Wahrheit gilt offensichtlich sowohl in der geisti­gen Welt als auch in der physischen. Wenn wir am Ende sind, sind wir am Anfang.

Zum Leben gehört die Einsicht, daß die Wirklichkeit immer komplexer ist, als der Mensch sie in seinen Bemühungen um Er­kenntnis zum Ausdruck bringen kann. Die Wahrheit und die Wirk­­lichkeit sind jeweils größer als jene Gesichtspunkte, de­rer wir in unserer Erkenntnis habhaft werden können.

Jeder Mensch sollte unbedingt mit Personen diskutieren, die ihm widersprechen. Wer das nicht tut, hat keine Ahnung, wovon er re­det. Wer nur seine Seite eines Falles kennt, weiß wenig davon. Wenn er selbst nicht fähig ist, die Argumente der Gegenseite zu entkräften; wenn er sie nicht einmal kennt, hat er keinen Grund, eine Seite zu bevorzugen.

Es geht um das Wissen, daß wir vor Gott allezeit Unrecht haben, oder anders formuliert: „Hermeneutik bedeutet einzu­se­hen, daß auch der andere Recht haben könnte.“ (Søren Kier­ke­­gaard 1813–1855) Philipp Neri (1515-1595) hat bei ein und derselben Sache an­ders gehandelt, als es Ignatius von Loyola (1491–1556) getan hätte.

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Die Thematik dieses Impulses findet sich auch in der F.A.Z. vom 7. OKTOBER 2020 in einem Artikel von Thomas Grundmann unter der Überschrift „Mit Wikipedia durch die Corona-Kontroversen“ und den einleitenden Zeilen „Die Flut an Expertenmeinungen, die noch dazu krass abweichen können, überfordert viele. Wem soll man glauben, wenn die Wissenschaft vielstimmig auftritt? Eine Checkliste für Laien“.
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