12.9.2022

Wer bin ich?

Diese Frage zeigt, daß der Mensch in Distanz zu sich selbst treten kann, ohne sich fremd zu werden. Die Begegnung mit sich selbst läßt das Vertraute in neuem Licht erscheinen.

„Wer sind Sie?“, fragte ein Wärter Arthur Schopenhauer (1788-1860), der im Dunkeln seine Wohnung suchte. Er antwortete: „Wenn ich das nur wüßte.“

Wer kann eine vollständige Antwort auf diese Frage geben? Wer kennt sich schon wirklich, abgesehen von den verschiedenen Veränderungen vom Kind zum Erwachsenen und schließlich zum Greis?

Wer weiß schon, wie er sich ändern wird, wenn er dement wird?

Wir dürfen glauben, daß Gott uns durchschaut und wir in ihm geborgen sind.

Nicht wenige Menschen suchen ihre Selbstverwirklichung durch Abgrenzung von anderen; denn sie wollen sich selbst und ihre Besonderheit sichern. Manchmal ist dabei sogar ein Feind hilfreich. Ein Zeichen von menschlicher Schwäche ist es, andere Menschen von vornherein abzuwerten und sie ins Lager der Feinde zu verweisen.

Die Fähigkeit zur Abgrenzung ist ein besonders vielschichtiges und oft auch konfliktträchtiges Thema in unserem Leben. Sie beeinflußt maßgeblich unsere sozialen Interaktionen, sei es beruflich oder privat.

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Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
Wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott,
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.

(aus: Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Widerstand und Ergebung)

Dieses Gedicht ist im Juli 1944 in Berlin entstanden. Dietrich Bonhoeffer befand sich damals seit Monaten in der Haft der Gestapo.