
26.10.2019
Wie der Herbst zu seinen Farben kam
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Herbsttag
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Pater Walther Gaemperle SVD (1934-2010)
Wie der Herbst zu seinen Farben kam
Vor langer, langer Zeit stritten der Frühling und der Herbst miteinander. Der Frühling tat groß und spielte sich auf. Er lobte sich in vollen Tönen. Dabei schilderte er anschaulich das Erwachen der Natur. Er malte die verschiedenen Grüntöne der Bäume, Wiesen und Sträucher und pinselte die Blüten- und Blumenpracht eines herrlichen Maitages. Der Herbst konnte die Pracht lebendig vor sich sehen ...
„Und du, was hast du zu bieten?“ fragte der Frühling überheblich. Der Herbst verwies zaghaft auf die süße Fülle der Früchte und auf die Freuden der Ernte und wie wichtig das doch sei für Menschen und Tiere.
Der Frühling aber wollte nichts gelten lassen. Die Ernte sei nicht im Herbst, sagte er, sondern im Spätsommer, wenn man es genau nehme; und wenn schon, dann verdanke der Herbst seine Fülle sicher der Kraft der sommerlichen Sonne. Herbst sei Abschied und hoffnungsloses Sterben. Am Ende müsse man froh sein, wenn der Winter komme und die herbstliche Erbärmlichkeit und kahle Schande zudecke, bis er, der Frühling, dann wiederkomme.
Der Herbst wagte nicht zu widersprechen. Er wurde sehr, sehr traurig, denn ein wenig, so schien ihm, hatte der Frühling sogar recht ...
Dann ging der Herbst nachdenklich weg. Wenig später traf er den Schöpfer. Dem fiel sofort auf, daß der Herbst sehr traurig war, und er fragte ihn, was denn los sei. Der Herbst erzählte von dem Streit mit dem Frühling. Und leise wagte er eine kritische Bemerkung: „So ganz unrecht hat der Frühling ja nicht. Warum denn muß ich den Menschen und Tieren Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit bringen?“
Der Schöpfer wollte etwas sehr Ernstes und Wichtiges sagen. Doch dann besann er sich und lud den Herbst ein: „Komm mit, ich habe noch viele Farben, die bei der Schöpfung übriggeblieben sind. Du kannst sie alle haben. Mach etwas Schönes gegen die Traurigkeit!“
Und als dann im Ablauf des Jahres der Herbst wieder an der Reihe war, zauberte er mit den Farben, die bei der Schöpfung übriggeblieben waren, eine Farbenpracht und frohe Buntheit über die Welt, daß selbst der Schöpfer staunen mußte.
Der Sommer hielt beim Weggehen noch einmal kurz inne. Er traute seinen Augen nicht, dann aber freute er sich und lieh dem Herbst ein paar sommerliche Sonnentage, damit die Farben leuchteten und spielten. Der Winter änderte seinen Terminplan und kam etwas später, denn er wollte sich erst satt sehen an der leuchtenden Pracht.
Der Schöpfer freute sich, weil es dem Herbst gelungen war, ein Bild der kommenden Herrlichkeit ins Sterben hineinzuzaubern.
Der Frühling aber wurde böse. Und noch heute schickt er, weil er neidisch ist, dann und wann einen seiner frechsten Aprilwinde, um das Bild der kommenden Herrlichkeit zu zerstören.
Hermann Hesse (1877-1962)
Im Nebel
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
Eine der netten Eigenschaften von Mutter Natur ist die Art, wie sie im Herbst rot wird, bevor sie sich entkleidet.