Rückblick und Ausblick

Rückblick und Ausblick
anläßlich des Goldenen Priesterjubiläums
Warum ich in der Kirche bin und bleibe

Verehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, ich freue mich, daß Sie da sind und mir Gelegenheit geben, Sie teilnehmen zu lassen an der Beantwortung der Frage, warum ich in der Kirche geblieben bin und bleiben werde.

Ich mag die Kirche leiden, aber ich leide auch an ihr. Als ich mir vorgenommen hatte, zu meinem Goldenen Priesterjubiläum diesen Vortrag mit dem angekündigten Titel zu halten, hatten wir noch keinen Papst Franziskus. Aber dann kamen der Rücktritt von Papst Benedikt und die Papstwahl. Gewöhnlich verfolge ich die Nachrichten um 19.00 Uhr im Fernsehen. Am Mittwoch, dem 13. März 2013, wurden sie unterbro­chen, weil weißer Rauch verkündete: Wir haben einen neuen Papst! Was war das für ein Augenblick, als nach langem Warten, der neue Papst auf den Balkon trat – nicht wie sonst üblich in roter Mozetta und kostbarer Stola, sondern schlicht und einfach nur ganz in Weiß gekleidet. Ein kurzer Gruß „buona sera – guten Abend“, eine Verneigung vor den vielen Menschen, die Bitte um ein Gebet und der Petersplatz versank in Stille und Schweigen. Die vielen Menschen kamen ins Staunen über diesen Mann „vom Ende der Welt“, wie er selbst formuliert. Wie groß war mein Erstaunen über den franziskanisch ausgerichteten Jesuiten, der sich Franziskus nennen ließ.

In der F.A.Z. fand ich am 14. März keine Notiz zur Papstwahl, aber am 15. März umfaßten die Kommentare mehrere Seiten. Daniel Deckers schrieb u. a.:
„Daß ein Mitglied des angesehensten, elitärsten und umstrittensten Männerordens der Kirche den Gründer der ‚Minderbrüder’, den poverello Francesco [den kleinen armen Franziskus] zum Vorbild nimmt, zeugt von einem fast tollkühn zu nennenden Selbstbewußtsein.“

Daß der Jesuit Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt wurde und sich dabei noch den Namen Franziskus zulegte, ließ meine Hoffnung dahingehend wachsen, daß der Heilige Geist doch noch in der Kirche mitmischt. Die Kardinäle hatten ja darüber debattiert, ob nur ein neuer Papst gewählt werden solle oder ob auch durch ihn die Kurie reformiert werden könne. Letzteres hat Franziskus mutig in Angriff genommen, ein Schritt, den seine Vorgänger nicht gewagt hatten.

Mir fiel dabei ein, daß Franz von Assisi seine Vision:
„Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst,
ganz und gar in Verfall gerät!“
zuerst falsch verstanden hatte, denn er mauerte zunächst mit Steinen an der baufälligen Kirche von Assisi.

Auch ich wollte lieber an der Kirche aus Menschen bauen, als an einer Kirche aus Steinen, was ich als Maurerlehrling zweimal getan habe. Daher hoffte ich darauf, daß der neue Papst in der Kurie anfange, aufzuräumen, zu renovieren, zu restaurieren und zu reformieren. Was ist inzwischen aus der Hoffnung geworden? Papst Franziskus ist dabei, meine Hoffnung Wirklichkeit werden zu lassen.

Reformfreudige gerieten früher schnell unter den Druck extrem fundamentalistischer, traditionalistischer Denuntianten, welche Gehör fanden, statt abgewiesen zu werden. Es würde reichen, wenn Papst Franziskus den Anfang mit der Reform der Kurie machte, so wie Papst Johannes XXIII. es mit dem Konzil gemacht hat.

In meiner Maurerlehre mußte ich nach dem Krieg auch „Steine kloppen“. Ich habe zweimal am Aufbau einer Kirche mitgewirkt. Eine davon war eine Behelfskirche, in der werktags der Altarraum abgetrennt wurde, um Platz zu haben für einen Kinder­garten. An diesem Gebäude durfte ich meinen ersten Fenstersturz mauern. Mein Polier hat ihn akzeptiert, und in den zu dieser Kirche gehörigen Räumen habe ich vor 50 Jahren nach meiner Primizmesse gefeiert.

Ich wollte Architekt werden, aber dann kam mir der Gedanke, doch lieber Kirche aus lebendigen Steinen zu bauen. Obwohl: Als Gedenk- und Erinnerungsorte vergegen­wärtigen Kirchen die Vergangenheit, als Orte des Heiligen transzendieren, d. h. überschreiten sie die Gegenwart, und als Stein gewordener Glaube bezeugen sie die sprachlich kaum faßbare Hoffnung auf Ewigkeit. Ich wollte Pastor werden, wie man in meiner niederrheinischen Heimat die Pfarrer nennt. Nun trage ich den Titel Pfarrer, bin es aber nie gewesen, erst recht kein leitender Pfarrer, wobei viele, die es sind, das harte t in „leitend“ in Gedanken mit einem weichen d schreiben. Viele wissen, daß ich am liebsten einfach mit meinem Namen Seeger angeredet werde. Von den vielen Titeln, die ich zu führen hatte, finde ich den des Spirituals, des Geist­lichen Begleiters, mir am gemäßesten, obwohl ich ihn ergänzen würde um Corporal von lat. corpus = Körper; denn ich möchte für den ganzen Menschen dasein. Aber der fällt ja bei uns in der allgemeinen Vorstellung auseinander in Leib und Seele, was sich schrecklich auswirkt für die Vorstellung des Todes: Die Seele fährt gen Himmel, der Leib wird verscharrt in der Erde. Nach meiner Überzeugung ist der ganze Mensch im Himmel, nicht nur seine Seele. Der Mensch ist eine Einheit aus Leib und Seele. In dieser Einheit steht Seele/Spiritus in der Bedeutung von Atem und Hauch. „Ruach“ heißt es im Hebräischen und „pneuma“ im Griechischen. Am Rande sei darauf hingewiesen, daß der Atem für den Heiligen Geist steht, der nicht einfach eine Taube ist. Er wird lediglich verglichen mit dem Schweben einer Taube (Joh 1,32).

Als ich nach 8 Kaplansjahren Pastor werden wollte, durfte ich es nicht, Bischof Heinrich Tenhumberg hatte anderes mit mir vor. Als ich es dann nach 25 Jahren, die ich nicht in einer Pfarrei gearbeitet hatte, werden sollte, wollte ich es nicht mehr. Ich hätte das Management eines Pfarrer sicherlich bewältigt, aber ich wollte Zeit und den Kopf frei haben für die Arbeit mit und an den Menschen. Als Bischof Reinhard Lettmann dann überlegte, wo er mich hinstecken solle, meinte er: „Geh mal nach Billerbeck zu Heinrich Remfert, mit dem hast Du Dich doch schon einmal so lange vertragen.“

Ich habe bei Heinrich Remferts Primiz als Diakon assistiert, er wurde nach seiner Weihe Kaplan in meiner Heimatgemeinde Christus König in Kleve, und dann war ich lange Jahre mit ihm zusammen im Collegium Borromeum in Münster, er als Direktor, ich als Spiritual. Als er dann vor mir das Collegium Borromäum verließ und nach Billerbeck kam, haben wir mit den Studenten des Collegium Borromäum Wallfahrten nach Billerbeck gemacht. Ich hatte damals nicht den Eindruck, daß es mich dorthin zöge. Nun bin ich da und möchte nicht mehr weg. Nur mein Sarg, den ich mir schon ausgesucht habe, soll nach Kleve kommen und dort beigesetzt werden, wo der selige Karl Leisner, der mich vom 15. Lebensjahr an begleitet hat, seine erste Grab­stelle hatte.

Als Junge las ich die von Pater Otto Pies SJ herausgegebene Biographie „Stephanus heute“ über ihn, und begann daraufhin, wie Karl Leisner es getan hat, selbst Tage­buch zu führen. Nicht einmal im Traum hätte ich daran gedacht, einmal vom inzwi­schen verstorbenen Bischof Reinhard Lettmann mit der Kommentierung von Karl Leisners schriftlichem Nachlaß beauftragt zu werden, die nun unter dem Titel „Karl Leisner - Tagebücher und Briefe - Eine Lebenschronik“ genau im Jahr meines Goldenen Priesterjubiläums erscheinen wird.

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Nicht erst heute, da die Institution Kirche keinen so guten Eindruck mehr auf mich macht, wie das in meiner Kindheit und Jugend der Fall war, habe ich mir die Frage gestellt, warum bleibe ich eigentlich. „Christ in der Gegenwart“ berichtete im April 2013 unter dem Titel „Wir waren Missionare“: „Als junge Männer und Frauen gingen sie in die Mission. Nach Deutschland kamen sie nur selten. Nun sind sie alt und erleben hier eine Kirche, die sich völlig verändert hat.“

Alte Männer und Frauen, erfahrene Missionare, trafen sich zu einer Studienwoche im Bonifatiuskloster in Hünfeld und mußten feststellen: Es ist alles anders geworden, angefangen damit, daß die Heimatpfarrei in einem großen Pfarrverband aufge­gangen ist, bis dahin, daß besonders bei den jüngeren Menschen auch im Orden das Interesse für die Mission nachgelassen hat.

Schon früher, vor allem als ich durch meine Tätigkeit als Spiritual viel mit Psycholo­gen zu tun hatte, fragte man mich oft: „Warum bleibst Du bei denen, warum kommst Du nicht zu uns?“

Als es kritisch wurde, weil Jesus etwas sagte, was die Jünger nur schwer verstan­den, fragte er sie: „Wollt auch ihr gehen?“ (Joh 6,6) Jesus bleibt bei seiner Wahrheit. Auf den Unwillen hin schwächt er weder ab noch sagt er: „Ach, bleibt doch!“ Petrus spricht für alle: „Wohin sollten wir gehen?“

Wohin sollte ich gehen, wenn ich aus der Kirche austreten würde? Ich habe erkannt, daß die Botschaft Jesu lebensspendend für mich ist. Wenn sie doch auch nur so verkündet würde! Da fangen meine Probleme mit dem Bodenpersonal an. Aber trotz­dem bleibe ich!

Warum? Die Beantwortung dieser Frage gehört in einen größeren Komplex.

Ich wurde am Fest Pauli Bekehrung, am 25. Januar 1964, geweiht. Was es mit einer und meiner Bekehrung auf sich hat, wäre ein eigenes Thema. Jedenfalls ist es nicht so, wie es oft dargestellt wird: Paulus reitet in die verkehrte Richtung, fällt vom Pferd, von dem nebenbei in der Bibel keine Rede ist, dreht sich um und reitet in die richtige Richtung.

Bekehrung zu Gott kann kein einmaliges Ereignis bleiben, sie muß immer wieder im Leben bestätigt werden. Ich bin noch kräftig dabei, dies zu tun. Auch die Kirche müßte sich als eine „semper reformanda“, eine „immer neu zu reformierende“ verste­hen.

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Nun aber zu Sache: „Verkündet wurde das Reich Gottes, gekommen ist die Kirche!“ so formulierte es der Franzose Alfred Loisy (1857–1940). Aber nicht die Kirche ist das Zuhause, sondern Gott und sein Reich.

Ich las ein Wort von Fulbert Steffensky, dem ehemaligen Benediktiner von Maria Laach und späterem Ehemann von Dorothee Sölle: „Ich bin in dieser Kirche nicht ganz zu Hause. Sie ist eine Art Rohbau jener Heimat, die wir erwarten.“

Mission darf nicht als Verbreitung der Kirche verstanden werden, sondern als Ver­kündigung des Reiches Gottes. Missionare trafen früher auf eine andere Lebenswirk­lichkeit als heute. Neuevangelisierung ist entschieden schwerer, als es Mission zu der Zeit war, als viele Menschen Christen wurden, weil ihr Herrscher es wurde. Bis vor etlichen Jahrzehnten war das Individuum zwar nicht unbedingt gläubig, bewegte sich aber in einem gläubigen Kontext. Diesen haben wir inzwischen verlassen.

Was hat sich statt dessen entwickelt? Organisatoren sportlicher Großereignisse leihen sich liturgische Kompetenz aus und geben ihren Eröffnungsfeiern eine sakrale Dramaturgie. Mich erinnert das ein wenig an das Vorgehen der Hitlerjugend, die damals die christlich gefärbten Bräuche der Jugendbewegung übernahm. Reklame ist oft verbunden mit Sinnangeboten.

Das interaktive Internet hat als Medium der Jugend schlechthin die Eigenschaften angenommen, die man einst Gott zuschrieb: allmächtig, allwissend, allüberall, allzeit zugegen.

Die Sehnsucht des Menschen nach dem Vollkommenen, Guten, Wahren und Schönen, die früher auf die Götter im Himmel projiziert wurde, bleibt innerirdisch und geht über auf die Prominenten in der Welt, z. B. Sportler, Schauspieler und hier und da auch auf Politiker. Welcher Kult um Michael Schumacher entwickelte sich in unseren Tagen. Die Guttenbergs wurden innerhalb weniger Monate zu deutschen Ersatz-Royals und verließen wenig später fluchtartig das Land. Es verbreitet sich eine eigenartige Faszination um die Erfolgreichen.

Im Protestantismus ist ein Wandel zu beobachten vom rein göttlichen Wort und der Bibel („Ich gehe in die Predigt“) zur Erfahrung von Gegenständlichem, z. B. feierliche Liturgie wie auf Kirchentagen, Bedürfnis nach Segnungen usw. bis zu Salbungen mit Öl.

Die 2000 Jahre Christentum sind eine große Erfolgs- und Segensgeschichte. Wenn es die Kirche nicht gäbe, müßte man sie erfinden; denn ohne das Evangelium sähe die Welt anders aus. Es fehlte die humanisierende Kraft des Christlichen. Anderer­seits aber reiben sich viele wund an den Kircheninstanzen und -verhältnissen. Das Katholische, das das Allumfassende und Ganze im Namen trägt, degeneriert zu seinem Gegenteil, zum Provinziellen. In manchen Milieus spielen Glaube und Religion kaum noch eine Rolle.

Schon das Volk Israel hatte seine Schwierigkeiten. Es war ursprünglich als Theokratie konzipiert, das heißt, als Volk, das sich direkt von Gott und seinen Weisungen regieren läßt, ohne eigenen König. Aber es wollte einen König wie alle anderen. In der Wüste wollte es Gott auch greifbar haben und fertigte das Goldenen Kalb.

Ich glaube nicht an die Kirche, sondern an den lebendigen Gott allein, dies aber mittels, dank und trotz der Kirche. Sie ist ein Acker voll Weizen und Unkraut. Ich glaube nicht, weil die Botschaft verkündet wird, sondern ich glaube, obwohl sie verkündet wird. Wichtig ist mir, was mir ins Herz gelegt wurde von dem, den wir Gott nennen. Eine Wirklichkeit, die meine erfahrbare Wirklichkeit übersteigt, an der ich aber Anteil habe. Es ist die Sehnsucht nach Echtem, Metaphysischem. Aber mit dem bloß Metaphysischen ist es nicht getan, man muß sich auch auf eine äußere Form einigen, auf ein Symbol, sonst ist im Grunde doch nichts da.

In der Kirche, in der ich groß geworden bin, galt das Wort des großen Religions­philosophen Romano Guardini: „Die Kirche erwacht in den Seelen“.

Und uns erquickten die „Hymnen an die Kirche“ von Gertrud von Le Fort. Mir hatte es besonders das Kapitel „Heiligkeit der Kirche“ angetan mit den Versen:
„Ich bin die Straße aller ihrer Straßen:
auf mir ziehen die Jahrtausende zu Gott!
Deine Diener tragen Gewänder, die nicht alt werden,
und deine Sprache ist wie das Erz deiner Glocken.“

Ich bin mitten im letzten Konzil geweiht worden. Wir spürten den großen Atem des Aufbruchs und glaubten an eine Erneuerung, die die Kirche stark, lebendig und offen macht für die Herausforderungen unserer Welt in einer Zeit der globalen Umbrüche und Krisen. Statt dessen ist dann diese Kirche selbst in Krisen geraten: Krise des Glaubens, Krise verfestigter Strukturen und Krise innerer Zerrissenheit.

Ich bin gerne Priester trotz der begrenzten Freude über die augenblickliche katho­lische Kirche. Ich stehe auch heute noch zu dem, was ich zum silbernen Priester­jubiläum, das ich noch im Collegium Borromaeum in Münster feierte, auf meine noch vorhandenen Primizbilder drucken ließ: „Ich bereue es nicht und wähle den Weg, den ich geführt werde.“

Von einer sündigen Kirche wußte ich vor meiner Primiz noch nichts, wußte noch nicht, daß sie sich immer wieder reformieren muß. Heilig ist alleine das Reich Gottes.

Die Liturgische Bewegung und die Bibelbewegung prägten meine Jugendzeit, und meine Freude war groß, als all deren Errungenschaften im Zweiten Vatikanischen Konzil Früchte trugen. Hinzu kam, daß das Bild von der starren Form der Burg auf dem Berg ergänzt wurde durch das pilgernde Volk Gottes. Josef Ratzinger, mein letzter Lehrer in Münster, er auch noch als Papst die Muschel als Symbol für Pilger­schaft im Wappen trug, war daran als damaliger Berater von Josef Kardinal Frings maßgeblich beteiligt.

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Die Grundfrage unseres Lebens ist: Warum ist etwas, warum ist nicht nichts? Das Nichts kann das Dasein nicht begründen. Es muß etwas Unendliches, Absolutes geben, damit etwas ist; denn neben diesem Absoluten kann es nichts anderes mehr geben. Alles Endliche muß so etwas wie ein Teil des Absoluten sein. Sinn und Geschmack für das Unendliche wecken, fällt heute schwerer als gestern. Es muß ein Prinzip geben, das den Unterschied von Sein und Nichts zugunsten des Daseins begründet: Gott. Dieser Gott ist größer und kleiner als Größtes und Kleinstes je gedacht werden kann. Er ist unermeßlich und daher unmeßbar.

Nach jüdischer Vorstellung zieht Gott sich zurück, um Raum für die Schöpfung zu schaffen, die er am Ende wieder heimholt, wenn er wieder alles in allem ist (1 Kor 15,28).

Pantheismus, das heißt Gott ist eins mit allem, ist der Versuch, den jenseitigen Gott wieder zurückzuholen in unsere Welt.

Da aber Gott ist und wir sind, ergeben sich die Fragen: Woher komme ich? Was soll ich jetzt und hier? Wohin gehe ich?

Ich glaube an das Mysterium, das Geheimnis, warum ich als ein bestimmter Mensch, in einem bestimmten Körper, zu einer bestimmten Zeit die Welt erlebe. Ich bin tief davon überzeugt, daß dahinter mehr als purer Zufall steckt, wohl etwas, das ich nicht wirklich begreifen kann.

Ein Jubiläum ist Anlaß innezuhalten, sich zu besinnen und Antwort zu geben. Wenn Sie meine persönliche Biographie als roten Faden verfolgen, könnte Ihnen das vielleicht Anregung sein, in Ihre eigene Lebensgeschichte zu schauen und sich zu fragen, ob Sie Antworten für Ihr eigenes Leben geben wollen.

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Für mein Leben habe ich einige Grundthesen, dazu gehört zum Beispiel der Unterschied zwischen Inhalt und Form. Für mich ist der Zusammenhang von Inhalt und Form wichtig. Früher gab es im Collegium Borromaeum in Münster die Redewendung: „Nicht überall, wo Direktor draufsteht, ist auch Direktor drin.“

Jeder Inhalt schafft sich seine Form, und eine Form füllt sich mit Inhalt. Aber das Gesetz des Lebens führt dazu, daß sich die Form im Laufe der Zeit verhärtet. Ausdrucksstark formuliert dies das Heilige Buch des Ostens, „Tao te King“ von Laotze, im 76 Abschnitt:
„Der Mensch, wenn er ins Leben tritt, ist weich und schwach,
und wenn er stirbt, so ist er hart und stark.
Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten, sind weich und zart,
und wenn sie sterben, sind sie dürr und starr.
Darum sind die Harten und Starken Gesellen des Todes,
die Weichen und Schwachen Gesellen des Lebens.“

Jesus spricht vom neuen Wein und den alten Schläuchen ... (Mt 9,17)

Bundestagspräsident Norbert Lammert, ein bekennender Katholik, erklärte einmal:
„Mein Hauptproblem mit meiner Kirche ist, dass sie an der Aufrechterhaltung des eigenen Geschäftsmodells mehr interessiert zu sein scheint als an der Vermittlung von Glaubensinhalten.“

Wenn die Form erhärtet, führt es zum Fundamentalismus. Besser wäre eine Reformation. Viele Orden haben das in ihrer Geschichte gezeigt – Reformklöster und vieles andere ... Die Reformation Luthers in der Kirche ist mißglückt. Er hat nie an eine Spaltung gedacht. Die großen Reformer zeigen, daß es möglich ist, einerseits die Kirche massiv zu kritisieren und sich ihr gleichzeitig aus tiefstem Herzen verbunden zu fühlen und sich leidenschaftlich für deren Erneuerung einzusetzen. Hans Küng ist dafür ein Beispiel aus unserer Zeit.

Wer Neues will, darf Irrtümer nicht scheuen. Die F.A.Z. vom 5. Februar 2014 berichtete unter anderem:

Der Papst hatte im vergangenen Juni den Vorstandsmitgliedern der lateinamerika­nischen Konferenz der Ordensleute (CLAR) gesagt, er wolle, dass die Kirche „vorankommt“ und „aufrüttelt“. Man werde Fehler machen. Das sei aber nicht wichtig, und es sei auch nicht wichtig, „wenn dann ein Brief der Glaubenskon­gregation mit der Ermahnung kommt“. Ihm sei „eine Kirche lieber, die Fehler macht, als eine, die wegen ihrer Verschlossenheit krankt“.

Reformationen wollen keine neue Kirche, sie wollen an die Ursprünge erinnern, allerdings nicht dahin zurück, wohl aber aus ihnen heraus reformieren.

Notwendige Entscheidungen in Bezug auf wesentliche Dingen in unserer Kirche werden aber nicht gefällt. So wird der Reformstau im Kirchenleben zum Reformstau im Glauben. Ich habe mich sehr gefreut, als ich am 4. Februar 2014 in der F.A.Z. las, das sich bezüglich der Sexualmoral in der Kirche etwas tut, denn: „Die meisten Katholiken bringen mit der Kirche eine unverständliche und lebensfeindliche Sexualmoral in Verbindung.“

Die Kirche muß lernen, daß es im Bereich der sexuellen Orientierung verschiedenste Positionen gibt, nicht nur heterosexuell veranlagte Menschen. Daneben gibt es Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle und Intersexuelle. Von denen ist nicht zu erwarten, daß sie enthaltsam leben können.

Schwierigkeiten mit der Form Kirche gab es schon früh. Die frühe Christenheit lebte in der Erwartung, daß Jesus bald endgültig wiederkehre, um sein Reich auf der Erde zu errichten. Da das auf sich warten ließ, wurde Kirche zur Institution, erst recht als sie in der sogenannten Konstantinischen Wende Staatsreligion wurde. Wer da ernsthaft als Christ leben wollte, ging in die Wüste. So entstanden die kontemplativen Orden. Zugleich verrechtlicht sich die Kirche bis heute. Wer z. B. aus der Kirche austritt, bekommt oft noch einen Fußtritt hinterher, indem man ihm klar macht, was er alles nicht mehr darf. Das Wiederaufnahmeverfahren wird kirchenrechtlich als Bußakt gesehen.

Es geht um die Kirche als Form. Um welchen Inhalt geht es in unserem Zusammen­hang?

In meinem Leben gibt es einen ganz wichtigen Inhalt, den Bezug zur Transzendenz, einer Wirklichkeit, die die uns erfahrbare Wirklichkeit überschreitet, die sich mit Raum und Zeit nicht beschreiben läßt. Ich nenne sie Gott, aber dieser existiert weder räumlich noch zeitlich, sondern außerhalb von Raum und Zeit und daher für uns nicht vorstellbar. Wir sprechen von Ewigkeit, die aber nicht unendliche Zeit ist, sie dauert nicht. Sie ist höchstens im Kairos, im glücklichen Augenblick, wenn wir Raum und Zeit vergessen, erahnbar. Kinder erleben solche Momente, wenn sie völlig im Spiel versunken sind. Ewigkeit unter dem Aspekt zu sehen, nie ein Ende zu haben, kann sehr bedrückend sein. Aber da denken wir von der Zeit her, in der es oft gut ist, wenn etwas auch ein Ende hat.

Es geht um eine Ewigkeit, die für uns nicht erst kommt, sondern uns hier und jetzt schon umgibt. Früher wurde auf die Ewigkeit vertröstet. Heute wollen wir das Paradies auf dieser Erde. Theologisch sprechen wir vom Reich Gottes, das einen zukünftigen Aspekt hat: „Dein Reich komme!“ Aber vor allem einen gegenwärtigen: „Das Reich Gottes ist mitten unter/in euch!“ sagt Jesus (Lk 17,21).

Der Verlust der Transzendenz hat zur Folge, daß man schon hier alles auskosten muß. Im Mittelalter hatten die Menschen noch eine Vorstellung vom Paradies. Dessen Verwirklichung erwarten sie aber heute bereits in diesem Leben auf dieser Erde. Sie glauben, sich von der Religion emanzipiert zu haben, stecken aber in ihre diesseitige Glückssuche alles hinein, was sie früher von der Religion erwarteten.

Schon die bloße Annahme einer Transzendenz öffnet den Horizont und macht das Leben dadurch etwas reicher. Viele leben ein Diesseits ohne Jenseits. Das Diesseits ist ins Unendliche geweitet ohne ein Jenseits. Die Folge ist grenzenloses Wachstum.

Manche kennen den „Veruntreuten Himmel“ von Franz Werfel als Buch oder Film. Wir können vom „verlorenen Himmel“ sprechen. Die Ausrichtung des Lebens auf Gott aber befreit. Auf verschiedenen spirituellen Wegen, die weithin an den großen Kirchen vorbeigehen, suchen mehr und mehr Menschen nach der Erfahrung eines letzten Gehaltenseins, nach einem sie in einer letzten Tiefe ohne Bedingungen tragenden Grund. Religion ist eben Rückbindung an das Absolute. Das lateinische Verb religare bedeutet an-, fest-, zurückbinden. Die Religionen haben schon immer die Aufgabe, in je eigener Weise eine Antwort auf die größte Angst der Menschen überhaupt zu geben, der Angst vor dem Tod und vor dem, was danach ist. Sie wollen nicht einfach nur verscharrt werden. Zum Kern des Religiösen gehört die Transzendierung des Alltags. Die Begrenztheit des Dasein läßt ahnen: Das kann doch nicht alles sein.

Wolf Biermann formuliert: „Das soll nun alles gewesen sein? Da muß doch noch irgendwas kommen. Da muß doch noch Leben ins Leben.“

Wir haben der uns umgebenden Wirklichkeit den Begriff einer Person gegeben. Es muß eine überragende Intelligenz am Werk sein, was wir an allen Geschöpfen, am gesamten Kosmos erkennen können. Der Kosmos dehnt sich immer noch aus, aber wohin und wie lange? Die Evolution auf unserem Planet geht weiter. Vielleicht sind wir ja der Neandertaler von morgen und sterben aus. Vielleicht sind wir das missing link, das fehlende Glied zwischen dem Affen und dem von Gott gedachten Menschen.

Zu dem, was andere Energie, Kraft oder auch nur „Ein Etwas“ nennen, können wir nur schlecht in Beziehung treten. Es ist die Vorstellung von der konkreten Gegenwart eines lieben Menschen, die entlastet. Da denkt jemand an mich. So dürfen wir glauben, daß es jemanden gibt, der seine Hand schützend über uns hält und uns den richtigen Weg weisen wird.

Der Mensch betrachtet sich als Ebenbild Gottes, von dem die Heilige Schrift sagt: „Gott ist die Liebe.“ Das es so ist, zeigt sich in nichts deutlicher als darin, daß der Mensch zu lieben vermag, sogar seine Feinde. Nach fast fünfeinhalb Jahren Haft im KZ Dachau lautet Karl Leisners letzter Eintrag vor seinem Sterben in sein Tagebuch: „Segne auch, Höchster, meine Feinde.“ Welch beeindruckendes und überzeugendes Bekenntnis am Ende nur eines dreißigjährigen Lebens.

Der Mensch ist ein Beziehungswesen, sein Gehirn ist ein kommunikatives Organ. Durch Zuwendung erfährt er in seinem Dasein Bestätigung. So kommt es zum Bild des Bundes von Gott mit den Menschen – vergleichbar mit dem Bund der Ehe. Gebet ist Kommunikation mit diesem Bundes-Gott. Er ist nicht körperlich anwesend, aber da hilft die geistige Vorstellung: ER ist bei uns und in uns und wir in ihm.

Transzendenz und die Beziehung dazu ist der Inhalt, die Form dazu ist notwendig, um die Beziehung leben zu können. Es ist wie bei der Liebe, die der äußeren Zeichen bedarf. Interessant ist, daß die Mystiker für diese Beziehung zu Gott die erotische Sprache verwenden, vor allem Frauen wie Theresa von Avila und Mechthild von Magdeburg. Die Skulptur „Verzückung der Theresa“ von Avila nach Giovanni Lorenzo Bernini, zeigt die heilige Theresa von Avila im Augenblick ihrer Vision, bei der ihr ein Engel mit dem Pfeil der göttlichen Liebe das Herz durchbohrt. Theresa hat dieses Erlebnis in ihrer Autobiographie mit folgenden Worten beschrieben:
„Unmittelbar neben mir sah ich einen Engel in vollkommener körperlicher Gestalt. Der Engel war eher klein als groß, sehr schön, und sein Antlitz leuchtete in solchem Glanz, daß er zu jenen Engeln gehören mußte, die ganz vom Feuer göttlicher Liebe durchleuchtet sind; es müssen jene sein, die man Seraphe nennt. In der Hand des Engels sah ich einen langen goldenen Pfeil mit Feuer an der Spitze. Es schien mir, als stieße er ihn mehrmals in mein Herz, ich fühlte, wie das Eisen mein Innerstes durchdrang, und als er ihn herauszog, war mir, als nähme er mein Herz mit, und ich blieb erfüllt von flammender Liebe zu Gott. Der Schmerz war so stark, daß ich klagend aufschrie. Doch zugleich empfand ich eine so unendliche Süße, daß ich dem Schmerz ewige Dauer wünschte. Es war nicht körperlicher, sondern seelischer Schmerz, trotzdem er bis zu einem gewissen Grade auch auf den Körper gewirkt hat; süßeste Liebkosung, die der Seele von Gott werden kann.“

Mechthild von Magdeburg:
Nun geht die Allerliebste zu dem Allerschönsten in die verborgenen Kammern der unsichtbaren Gottheit. Dort findet sie der Minne Bett und Gelaß und Gott über­men­schlich bereit.
Da spricht unser Herr:
„Haltet an, Frau Seele!“
„Was gebietest Du, Herr?“
„Ihr sollt nackt sein!“
„Herr, wie soll mir dann geschehen?“
„Frau Seele, Ihr seid so sehr in mich hineingestaltet, daß zwischen Euch und mir nichts sein kann. Es ward kein Engel je so geehrt, dem das wurde eine Stunde gewährt, was Euch von Ewigkeit ist gegeben. Darum sollt Ihr von Euch legen beides, Furcht und Scham und alle äußeren Tugenden. Nur die, die von Natur in Euch leben, sollt Ihr immerdar pflegen. Dies ist Euer edles Verlangen und Eure grundlose Begehrung; die will ich ewig erfüllen mit meiner endlosen Verschwen­dung.“
„Herr, nun bin ich eine nackte Seele, und Du in Dir selber ein reichgeschmückter Gott. Unser zweier Gemeinschaft ist ewiges Leben ohne Tod.“
Da geschieht eine selige Stille, und es wird ihrer beider Wille. Er gibt sich ihr, und sie gibt sich ihm. Was ihr nun geschieht, das weiß sie, und damit tröste ich mich. Aber dies kann nie lange sein. Denn wo zwei Geliebte verborgen sich sehen, müssen sie oft abschiedslos voneinander gehen.
Lieber Gottesfreund, diesen Minneweg habe ich dir geschrieben.
Gott möge ihn deinem Herzen erschließen! Amen.

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Eine Kirche, die sich für das Reich Gottes hält und als solches gebärdet, verfehlt ihre eigentliche Aufgabe. Johannes der Täufer, unser Pfarrpatron, ist nicht der Gefahr erlegen, sich für den Messias auszugeben.

Die Kirche ist ein zerbrechliches Gefäß. In 2 Kor 4,7 heißt es: „Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen.“ Und im Eph 5,27f. ist von Flecken und Makeln die Rede.

Einem Inhalt ohne Vorlagen eine Form zu geben, ist eine schwierige Sache. Nie wird das von heute auf morgen gelingen. Denken Sie, was Jesus Christus getan hat: So wenig feste Form gab er seiner Kirche, daß manche meinen, allerdings fälschlich, er habe überhaupt keine Kirche gründen wollen. Jesus wollte offensichtlich keine Institution, sondern die Gemeinschaft von Menschen, die ergriffen sind von seinem Geist und die als Salz und Sauerteig wirken und zur Veränderung der Welt beitragen.

Sie kennen das Wort: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“

Mein Primizspruch, den ich vor 50 Jahren gewählt habe, lautet: „Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Diener euerer Freude.“ Die Kirche müßte dazu dienen, transparent für die Transzendenz zu sein. Zeugin des Unendlichen. Papst Franziskus lebt es vor: „Arme Kirche – Kirche der Armen“ ist sein Motto.

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Um den Bezug zur Transzendenz zu gestalten und zu leben, braucht es eine Form, die Kirche.

Als Christ nenne ich den Inhalt Gott. Die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam haben sich in der Zeit des Patriarchates entschieden, diese nicht benennbare Transzendenz mit dem Begriff Person in Verbindung zu bringen, das Kostbarste, was wir zu vergeben haben. Aber so kam es zu einer Vergottung des Patriarchatsgedankens und einer Vermeidung des Weiblichen im traditionellen Gottesbegriffes.

In einem Artikel der F.A.Z. heißt es:
„Nichtpersonale Metaphern können das „heilige Geheimnis“, das „ganz Andere“ in mancher Hinsicht besser umschreiben als personale Bilder, die unter dem Ver­dacht stehen, eine menschliche Projektion zu sein. Gott antropomorph, also menschengestaltig aufzufassen. Doch Gott ist „nicht zu fassen“. Er übersteigt jedes sprachliche Fassungsvermögen, ist unbegreiflich. Er kann mit keinem „Be-Griff“ adäquat umschrieben oder gar benannt werden. Gott ist unverfügbar. Er steht für die Regelung innerweltlicher Verhältnisse nicht zur Verfügung, ist nicht funktionalisierbar – weder zur Begründung eigener Machtansprüche „von Gottes Gnaden“ noch zur Beglaubigung von Gewaltanwendung, wie es etwa der Schlacht­­ruf der Kreuzfahrer „Gott will es“ tat.“

Der im KZ Flossenbürg hingerichtete evangelische Theologe und Widerstands­kämpfer Dietrich Bonhoeffer wagt den Satz: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ „Es gibt“ ist eine menschliche Kennzeichnung.

Da der Monotheismus in einer Zeit des Patriarchats entstand, wurde Gott ein Mann, und zwar mit einem langen Bart.

Monotheistische Versuche gab es bereits in Ägypten unter dem Pharao Echnaton, der in der Sonne den einen Gott Aton sah. Sein beeindruckender Sonnengesang ist ein beredtes Zeugnis dafür.

Eng verbunden mit dem Monotheismus war aber eine hierarchische Struktur, die sich in der Kirche noch bis heute auswirkt, verbunden mit einer großen Angst vor einer synodalen Struktur. Der Zentralismus war selten so groß wie in der letzten Zeit. Wie kann es sein, daß die deutschen Bischöfe den Entwurf für ein neues Gotteslob in Rom prüfen lassen mußten? Wie kann es sein, daß ein Brief der Pfarrer an ein ausgetretenes Mitglied der Kirche von der Bischofskonferenz approbiert und von der Kongregation für die Bischöfe im Vatikan rekognisziert werden mußte?

Ich bin glücklich, daß das neue Meßbuch nicht kommt. Die Blamage mit dem Rituale zur Beerdigung war groß genug. Es war ein in neuerer Zeit kirchengeschichtlich einmaliges Ereignis, daß ein offizielles Rituale, rekognisziert von einer römischen Kongregation und approbiert von den deutschsprachigen Bischofskonferenzen, zurückgenommen werden mußte, weil es für die Praxis unbrauchbar war. Ich lebe aus der Hoffnung, daß Papst Franziskus den Ortsbischöfen wieder eigene Kom­petenzen gibt. Es besteht die Hoffnung, daß das Gewicht der Ortskirchen wachsen und die Sensibilität der römischen Zentrale für die Peripherie zunehmen wird.

Beten bedeutet für mich, meine Beziehung zu Gott zu pflegen. Das ist der Inhalt, dieser braucht aber eine Form. Dazu gehören die Haltungen wie Stehen, Knien oder auch Sitzen. Beim Rosenkranz gehört dazu die Perlenschnur, die es fast in allen Religionen gibt. Es kommt nicht darauf an, ob es 9 oder 11 „Ave Maria“ sind, die gebetet werden, sondern die sinnliche Erfahrung der Perlen ist hilfreich.

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Ein weiteres Begriffspaar ist Glauben und Wissen.

Die ersten Christen kamen ohne religiöses Wissen aus, ohne komplizierte Lehren. Sie folgten dem Beispiel Jesu. Das systematische Nachdenken über theologische Fragen begann erst, als es schon 100 Jahre Christen gab, denn ursprünglich hatte man unmittelbar nach Jesu Tod und Auferstehung die Weltvollendung erwartet.

Was können wir von dem, was wir glauben, wirklich wissen? Was können wir wissen von dem, was unser Begreifen total übersteigt? Das fängt bereits damit an, daß das, was wir glauben, ohne Raum und Zeit ist; wir aber ohne diese Kategorien nicht denken können.

Für die Form haben wir Bilder aus Raum und Zeit. Für den Inhalt müssen wir auch Bilder aus Raum und Zeit verwenden, die aber der transzendenten Wirklichkeit eher unähnlich als ähnlich sind. Wenn wir von der transzendenten Wirklichkeit alles verstehen würden, bliebe nichts mehr übrig.

Laut Überlieferung formulierte der große Theologe Thomas von Aquin, auf dem unsere Theologie früher aufbaute: „Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich geschaut habe.“

In der Einleitung zu seinem Werk „Summa Theologiae“ betont er, was er über Gott äußere, sei diesem eher unähnlich als ähnlich.

Das 4. Laterankonzil von 1215 verkündete, es könne zwischen Gott und Geschöpf keine noch so große Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne daß diese Benennung nicht eine noch größere Unähnlichkeit in sich einschließe. (vgl. 4. Laterankonzil, 1215, DH 806)

Bis in die Denkwelt des frühen 16. Jahrhunderts, als Magie eine Wissenschaft war, wurden Geister als erfahrbar und als Tatsache angenommen. Den Begriff des „Unmöglichen“ gab es nicht. So war es zweifellos denkbar, daß es Elfen, Nixen, Gnome und andere Wesen gab. Das kennen wir auch aus unserer Kinderzeit. Der Geist der Kinder entwickelt sich so, daß sie ohne Probleme über Geister, Engel und Teufel nachdenken können, und daß es ihnen leicht fällt, an Gott oder die Götter ihrer Kultur zu glauben.

Dann kam die Aufklärung mit ihrem Rationalismus, und die Elfen, Nixen und Gnome wurden den Kindern überlassen. Ich habe sie als Kind in der Schule noch gemalt. Heute glauben Menschen an Ufos und Grüne Männchen. Erstaunlich ist, wie stark der Engelglaube zugenommen hat.

In der Herder Korrespondenz vom Januar 2014 heißt es:
einer Allenshach-Studie um 1997 in Deutschland gaben 50 Prozent der erwachsenen Befragten an, an Schutzengel zu glauben. Aber nur 35 Prozent bekannten ihren Glauben an eine von Gott erschaffene Welt und nur 31 Prozent an Wunder.“

Die Aufklärung läßt sich nicht rückgängig machen. Ich bin gespannt, was passiert, wenn sie den Islam erreicht, und es dort z. B. eine Korankritik gäbe.

Unter den Bedingungen einer wissenschaftlich zusehends entzauberten, entmythologisierten, aufgeklärten Welt wird es für den Menschen immer schwieriger, auf althergebrachte Weise religiös zu sein, Gott zu bitten, ihm zu danken, ihn zu bekennen, ihn zu loben, oder in Riten und Sakramenten zu feiern. Wo das Zauberhafte entschwindet, bleibt das Folkloristische übrig, wie man z. B. bei der Erstkommunion beobachten kann.

Zeremonien und Rituale haben die Funktion, einen praktischen Bezug zum Religiösen herzustellen.

Wir benötigen eine zweite Naivität, durch den Kinderglauben hindurch, um uns dem tiefen Rest des Unerklärbaren auszusetzen. Jesus sagt das einfacher: „Wir müssen werden wie die Kinder, um ins Himmelreich einzugehen.“ (vgl. Mt 18,3) Damit ist nicht kindisch gemeint.

Meiner Meinung nach sind die Gottesdienste an Weihnachten so stark besucht, obwohl Ostern viel wichtiger ist, weil mit Weihnachten die Erinnerung an eine Zeit hochkommt, in der es so erfüllend war, glauben zu können, z. B. ans Christkind.

Meine Frage ist: Ist da, wo Kirche draufsteht, auch Transzendenz drin? Oder ist die Kirche ein Verein wie jeder andere?

Ich bin mit der sogenannten Tridentinischen Messe groß geworden, habe sie selbst noch einige Jahre zelebriert. Ich möchte nicht dahin zurück. Aber ich frage mich, ob in ihr, vor allem in der Form feierlicher Hochämter, nicht mehr vom Geheimnis Gottes erfahrbar wurde, als in der heutigen nachkonziliaren Form. Ich weiß nicht, wie der Alt-Papst Benedikt Entweltlichung verstanden hat. Ich würde sie so verstehen, daß aus der Kirche etwas mehr Welt heraus und in sie etwas mehr Transzendenz hinein müßte. Es geht um eine Entweltlichung des Einzelnen: Jeder bleibt mit der Welt verbunden, geht aber nicht in der Welt auf, sondern trägt in sich eine alternative transzendent-religiöse Art.

Es war sicherlich unnatürlich, daß ich als Kind kaum zu atmen wagte, wenn ich eine Kirche betrat. Aber wenn ich erlebe, wie Kinder heute zur Schulmesse eine Kirche betreten, unterscheidet sich das nicht vom Betreten eines Schulhofes oder Klassenraumes. Haben wir noch ein Gespür für das Heilige? Denn: Nicht der Ort ist heilig, unsere Wahrnehmung heiligt ihn. Was für die einen ein Schafstall ist, erweist sich für andere als Heiligtum.

Wir können durch unser Schreiten eine Scheune zur Kirche machen, und umgekehrt durch die Art unseres Gehens eine Kirche zur Scheune.

Wo spüren wir noch, was zwischen den Mauern west? Ich darf nochmals den „Tao te King“ zitieren, dort heißt es im 11 Abschnitt:
„Dreißig Speichen treffen die Nabe,
Die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen.
Die Leere darinnen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern.
Die Leere darinnen macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.
Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.“

Die Ostkirche versagt sich einer Liturgiereform. Aber dort gibt es auch keine „Macher“. Bei uns heißt es: Wer macht die Messe, wer macht die Lesung usw.

Als ich als junger Kaplan nach Xanten kam, fragte eine Mutter ihre Tochter: „Wer hat denn heute die Messe gemacht?“ Die Tochter: „Ich weiß es nicht. Ich glaube, heute haben die einen Obermeßdiener dran gelassen.“

Die Ostkirchen verweisen schon vom Aufbau der Kirchen noch deutlicher als wir mit unseren Kirchtürmen auf die Verbindung von Erde und Himmel. Das Quadrat bzw. der Kubus symbolisiert die Erde und die Halbkugel als Kuppel den Himmel. Innen sind die Wände voller Ikonen, sie gelten als Fenster zum Himmel. In der Ostkirche wird keine Eucharistiefeier gemacht. Interessanterweise haben die orthodoxen Gottesdienste weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende. Was die Menschen dort feiern, ist ein Einklinken in die immerwährende himmlische Liturgie.

Ähnlich wie in den orthodoxen Kirchen schauen wir durch die Ausmalung der Kuppeln unserer Barockkirchen auch ein wenig in den Himmel.

* * * * *

Wir unterscheiden zwischen Glaubenswissen und Glaubenserfahrung. Ich ordne das Glaubenswissen der Form zu und die Glaubenserfahrung dem Inhalt. Das Glaubens­wissen wurde früher durch den Religionsunterricht erworben. Da gibt es inzwischen aber große Wissenslücken, nicht selten sogar bei Religionslehrern. Als Kaplan – wir haben zu unserer Zeit noch viele Religionsstunden gegeben – war ich bereits der Meinung: Für die Glaubensvermittlung ist es wertvoller, zu erleben, daß der Familien­vater betet, als 10 der besten Religionsunterrichtsstunden erteilt zu bekommen.

Wie bringt man aber Glaubenserfahrung bei? Glaube ist wie die Liebe. Wir können Liebe nicht beibringen, wir können nur lieben, so auch nur glauben. Wir können keinen Glauben „machen“. Das Fehlen von Glauben und Liebe führt dazu, ein Leben ohne Religion für ganz selbstverständlich zu halten, vor allem im Wohlstand, wo nicht Not beten lehren muß. Wohlstand könnte aber auch zum Danken anregen. Zum Danken braucht es eine Gegenüber, ein Du. Damit sind wir wieder beim Inhalt, bei Gott, dem wir uns verdanken.

Unsere Fragen sind vor folgendem Hintergrund zu sehen: Ähnlich wie die „Partei“ der Nichtwähler bilden in Bezug auf die Religion die Atheisten nach Christentum, Islam und Hinduismus die viertgrößte „Weltreligion“. Der Anteil der Religionslosen wächst überdimensional im Vergleich zum natürlichen Wachstum der Bevölkerung. Wie ernst aber nehmen es die Getauften mit ihrem Glauben?

Der Unterschied zwischen Glaubenswissen und Glaubenserfahrung wird an der Art des Zweifelns deutlich: Beim Glaubenswissen geht es um eine Sache, die ich klären kann. Bei der Glaubenserfahrung geht es um eine Beziehung. Und da geht es nicht ohne jeglichen Zweifel. Ich denke da an den Buchtitel des Philosophen Peter Wust „Ungewißheit und Wagnis“. Als er sein Buch Bischof Clemens August Graf von Galen überbrachte, sagte dieser: „Für mich ist der Glaube weder Ungewißheit noch Wagnis“. Vor seinem Sterben aber schrieb der Philosoph, da er auf Grund seiner Gaumenkrebserkrankung nicht mehr sprechen konnte, auf einen Zettel: „Ich befinde mich in absoluter Sicherheit“.

Zwischen Ungewißheit und Wagnis und absoluter Sicherheit spielt sich auch mein Leben ab.

Der gelebte Glaube braucht wesentlich den gefühlten Glauben. Dieser aber ist keineswegs zwingend ein unkritischer, irrationaler Glaube. Im Gegenteil: Die heutigen Probleme aufgeklärter Menschen mit vielen religiös-theologischen Vor­stellungen erwachsen ja meistens gerade aus der Spannung, daß der amtlich gelehrte und offiziell bekannte Glaube immer weniger übereingeht mit der Welter­fahrung und Welterkenntnis gerade auch wissenschaftlicher Natur. Kann man, soll man gegen diese Erfahrung glauben?

Wir glauben an den EINEN Gott, und eigentlich kann es auch nur einen geben. Naturreligionen haben vielfach ein Götterpaar. Im Christentum gibt es die Vorstellung der Dreifaltigkeit, wobei zumindest der Heilige Geist als weiblich gesehen wird als die heilige Ruach oder einfach Geistin.

Die Juden wagen nicht, den Namen Gottes, der für sie der Offenbarungsname Jahwe ist, auszusprechen. Sie bitten auch uns Christen, das nicht zu tun. Der später ent­standene Islam verwendet den Begriff Allah. Sich Gott als Person vorzustellen, birgt auch Gefahren in sich: Wir glauben, wir könnten wie bei einem Menschen durch Aussprechen seines Namens seine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Gottes Name ist kein magisches Wort, mit dem sich etwas bewirken läßt. Ganz zu schweigen, von dem, was wir im Namen Gottes schon alles angestellt haben.

Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie Klaus Müller schrieb in „Christ in der Gegenwart“ 2009: „Mich treibt um, daß und warum die klassischen Monotheismen unerachtet der weltweiten Vitalität des Religiösen offenkundig verschlissen sind.“

Geht es um denselben Gott in nur drei Namensvarianten? Kann es sein, daß sich der „Eine Gott“ auch in anderen Religionen offenbart, wenn auch in ganz anderer Weise?

Wenn Gott Gott ist, ist er überall zu Hause. Ich halte die Aussage „Weihnachten heißt, Gott kommt dahin, wo er noch nicht ist“, die wir hier vor Jahren hörten, für sehr problematisch.

Die Griechen waren sich mit ihrem Götterglauben nicht so sicher, deshalb hatten sie einen Tempel für den unbekannten Gott. Paulus spricht dies auf dem Areopag an (Apg. 17,23) und findet für die Wirklichkeit, an die er glaubt, die wunderbaren Worte: „Denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“

„Wir in Gott, Gott in uns“, die Mystiker werden nicht müde, dies auf vielfältigste Weise zu verkünden. Der Glaube braucht Riten, Formen von Frömmigkeit, Wiederholungen, den Rhythmus des Kirchenjahres usw. „Einfach und wiederholbar“ ist ein Grundge­setz geistlichen Lebens. „Die Liebe sagt immer dasselbe, aber sie wiederholt sich nie“.

Riten sind der Lebensnerv von Religion. Dies bietet mir die katholische Kirche, in die ich hineingeboren bin, in der ich getauft wurde und vor 50 Jahren die Priesterweihe empfing.

Was mir diese Form, die mir die Kirche bietet, bedeutet, werde ich noch ausführen und entfalten.

Aber einen wichtigen besonderen Aspekt möchte ich zuvor herausstellen. Es gibt das Wort des antiken Bischofs Cyprian von Karthago: in Christ ist kein Christ.“ Deshalb mag ich das Wort „Mitchrist“ nicht, denn das ist ein „weißer Schimmel“. Religion und Glaube wollen in Gemeinschaft gelebt werden. Diese aber müßte überschaubar sein! Ich halte es nicht unbedingt für hilfreich, alle fünf Jahre die Seelsorgeeinheiten oder Pfarrverbände zu vergrößern.

* * * * *

Warum bin und bleibe ich in der Kirche? Die Antwort ist einfach: In der Kirche Jesu Christi bleibe ich zunächst einmal, weil ich in sie hineingeboren wurde. Durch Familie und Umwelt wurde ich zur Kirche und zum Glauben geführt. Dieser Sozialisations­prozeß wurde durch ein katholisches Milieu gestützt. Mich erstaunt heute noch, daß ich 1951 während einer Volksmission der Pallottiner in meiner Heimatgemeinde morgens um 6.00 Uhr in einer Missionspredigt war, um 7.00 Uhr auf dem Bau als Maurerlehrling, und um 20.00 Uhr wieder in einer Predigt. Nach 14 Tagen war mir klar, ich will Pallottiner werden, ging dann aber doch nach dem Abitur am Gymna­sium in Limburg zum Studium nach Münster, um Weltpriester zu werden.

Die Motive, warum ich Priester Jesu Christi in dieser Kirche geworden bin, umfassen ein ganzes Bündel. Viele dieser Motive mußten erst nachreifen, damit ich damit bestehen konnte. In meiner Aufgabe als Spiritual im Collegium Borromaeum habe ich zahlreiche vergleichbare Lebensgeschichten bei den Priesterkandidaten kennen­gelernt. Ich freue mich, daß ich persönlich mit meinen Fähigkeiten und Macken in der Kirche einen Platz gefunden habe. Dadurch bin ich allerdings in vielem nicht geprüft worden, zum Beispiel ob ich ein guter Ehemann und Familienvater geworden wäre.

Erneut eine Antwort auf meine Frage, warum ich in der Kirche bleibe: Nicht aus guter Gewohnheit, nicht aus Pflichtgefühl z. B. bezüglich des Sonntagsgebotes und auch nicht wegen des sozialen Engagements der Kirche, das legen auch andere Institu­tionen an den Tag. Interessant ist, daß der Zulauf der katholischen Schulen trotz des Mißbrauch-Skandals nicht abgenommen hat.

Ich bin froh, daß es all diese kirchlichen Institutionen gibt. Dort wird aber der Wert des Glaubens an seinen Nebenerträgen gemessen, und nicht an seiner Wurzel, der religiösen Erfahrung. Meine große Sorge und Frage aber ist: Ist in der Form noch der Inhalt, der darin sein sollte? In einer Volkskirche, die es nicht mehr gibt, fiel ein derartiges Manko nicht sofort auf. Alle taten, was alle taten und lebten so in einer religiösen Gemeinschaft. Es gab eine wenig reflektierte gute Gewohnheit und ein unterschwelliges Pflichtgefühl gegenüber dem Sonntagsgebot. Heute sehen viele Katholiken keine Notwendigkeit mehr darin, die sogenannte Sonntagspflicht zu erfül­len. Daß aber alle damit auch einen intensiven Bezug zur Transzendenz pflegen, wage ich zu bezweifeln. Früher war auch der Alltag eng mit der Religion verbunden. Denken wir nur an das Brauchtum. Was auch geschah, ob Kirchweih, heutzutage ist daraus die Kirmes geworden, oder Wallfahrt, die aus dem Dorf herausführte, es geschah im Rahmen der Kirche.

Der Glaube war früher gesellschaftlich voraussetzbar. Hat jemand nicht geglaubt, war das seine Privatsache. Heute ist es umgekehrt. Glaube ist Privatsache und Unglaube die Regel. Als Kinder durften wir abends raus, wenn es um die Maiandacht oder die Rosenkranzandacht ging. Eine gute Gelegenheit, Freund oder Freundin zu treffen. Das alles war sicherlich auch Ausdruck von Frömmigkeit, aber eben nicht nur. Die Frauen und Mütter hatten früher im Haus keinen eigenen Raum, in den sie sich zurückziehen konnten. Immer liefen ihnen die zahlreichen Kinder nach. Vermut­lich war da die Möglichkeit, werktags morgens an einer Stillen Messe teilzunehmen, durchaus eine willkommene Rückzugsmöglichkeit. Heute arbeiten Frauen, oft sogar ganztags. Wie mag der Gottesdienstbesuch am Werktag wohl in Billerbeck in 10 Jahren aussehen? Wie viele Gottesdienstbesucher habe ich schon in meiner Zeit hier in Billerbeck vermißt, weil sie gestorben sind oder alters- oder krankheitsbedingt nicht mehr kommen können.

Die Volkskirche ist tot. Aber wir hängen so an ihr. Eine Vision für die Zukunft stellt sich nicht ein. Jeder einzelne Mensch muß sich persönlich zur Kirche bekennen. Firmlinge sollen gleichsam das ratifizieren, was die Eltern in der Taufe für sie ent­schie­den haben. Es wird ein Bekenntnischristentum geben, ähnlich wie in der Urkir­che. Nachfolge Jesu setzt einen kreativen Akt voraus, damit nicht eine plumpe und unglaubwürdige Kopie herauskommt. Sie kennen den Ausdruck Mogelpackung usw. Wenn der Form kein Inhalt mehr entspricht, könnte man von einer Hülsengesell­schaft sprechen.

Eine Pressemitteilung zitiert, auch wenn nach wie vor 70% der Schweden der evgl.-luth. Kirche offiziell angehören, seien die Inhalte des christlichen Glaubens den meisten abhanden gekommen.

Um auf meine Frage, warum ich in der Kirche bin und bleibe, zurückzukommen, so lautet meine Antwort: Wegen der Suche nach Gott, einer Vergewisserung im Glau­ben, der Begegnung mit Christus, der Gnade und Kraft für den Alltag, der Vergebung der Sünden, der Möglichkeit, Anliegen und Bitten vorzubringen, des Wunsches zu danken, des Ausdrucks persönlicher Frömmigkeit, der Möglichkeit besondere Feste und Anlässe zu feiern, der Freude am Schönen und Festlichen der Liturgie, des Gemeinschaftserlebnisses, gewinnbringender Predigt, praktischer Lebenshilfe, um beerdigt zu werden sowie an Wendepunkten des Lebens auf eine gute Seelsorge zurückgreifen zu können.

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Ich empfinde mich als Grenzgänger, oder um es in einem anderen Bild auszu­drücken: Ich empfinde mich wie eine griechische Figur mit Standbein und Spielbein. Mit meinem Standbein stehe ich in der Kirche, aber mein Spielbein möchte ich frei haben. So habe ich vieles außerhalb der Kirche entdeckt, was auch in der Kirche gilt, nur außerhalb viel lebendiger ist. Ich will nur zwei Beispiele nennen:

Nach Rubriken, die in roten Buchstaben als Anweisungen in den Meßbüchern stehen, haben wir die entsprechenden Gebärden bei der Messe gelernt und vollzogen, ohne über deren Sinn und die dabei entsprechend einzunehmende Haltung aufgeklärt worden zu sein. Ein Beispiel dafür ist die Orantenhaltung beim Gebet. Es ist ein Unterschied, ob ich die Arme willentlich erhebe, oder ob dies aus dem Hara heraus geschieht, dem Bauchraum und dem Energiezentrum des Menschen. Der Zen-Buddhismus bezeichnet es auch als „Erdmitte“ des Menschen. Ich habe im Zen u. a. gelernt, wie alle Handlungen fließend ineinander übergehen. Ganz praktisch habe ich das auch während einer Teezeremonie erlebt.

Ein anderes Beispiel sind die früheren Fastenverordnungen, die nur aus Vorschriften bestanden. Sie waren nach dem Krieg von den Bischöfen erlassen worden, die selbst noch gehungert hatten. Aber es fehlte der Hinweis auf das Geschenk des Fastenkönnens. Ich habe viele Fastenkurse gehalten. Welche Freude war auf den Gesichtern zu sehen, wenn die Entschlackung gelungen war und etwas von der „Leichtigkeit des Seins“ zu spüren war.

Auch die Vorschrift des Nüchternheitsgebotes war nur eine entleerte Form ohne Hinweise auf den ursprünglichen Inhalt des Leerseins für Gott. Denken Sie an die Schneeflocke auf der Zunge auf dem Weg zur Messe, die die Nüchternheit zunichte machen konnte.

Auch der Ramadan im Islam ist reine Vorschrift. In heißen Ländern ist es gesundheitsschädlich, tagsüber nichts zu trinken.

Die Zeit, in der Religion die persönliche Lebensgeschichte und die Gesellschaft bestimmte, ist an ihr Ende gekommen. Tradierte Strukturen und Machtgefüge geraten mehr und mehr ins Hintertreffen. Die Menschen nutzen ihre neue Freiheit, um ihre Bedürfnisse und Ansprüche an die Kirche zu richten. Aber werden sie erfüllt?

Der Grazer Theologe Rainer Bucher stellt fest:
„Die Produktionsbedingungen von Pastoral entsprechen nicht mehr den Konsum­be­dingungen von Pastoral. Deshalb braucht es eine Neuformatierung von Kirche. Die Kirchenaustritte werfen die Kirche auf die Frage zurück, wofür sie überhaupt ist, und sie sind ein Signal, daß Kirche dekonstruiert wird und wir sie in neuer Form wieder zusammenbauen müssen.“

Auch die Feststellung „Es braucht einen Paradigmenwechsel“ hat ihre Gültigkeit. Selbst im Vatikan müßte sich herumgesprochen haben, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Aber das Bild des Scheichs aus dem alten Weltbild, der über dem Firmament thront, wurde beibehalten.

Warum sieht das Christentum so alt aus, obwohl doch Paulus bereits sagt: „Wandelt euch durch ein neues Denken!“ (Röm 12,2)

Dagegen steht die Ansicht: „Früher war eigentlich alles besser und vollkommener.“

Diesen Anschein wollen die traditionalistischen Trends wecken. „Erinnern statt Erneuern“ lautet die Devise. Der Blick auf die Kirchengeschichte lehrt aber vielmehr, daß es einen vollkommenen Zustand nie gegeben hat. Das hängt mit der bedeuten­den Frage zusammen: „War das goldene Zeitalter am Anfang oder kommt es erst am Ende?“

Es hat auch etwas von Selbstschutz, wenn wir die Vergangenheit vergolden und auf eine bessere Zukunft hoffen.

Warum glauben wir nicht, wenn Jesus uns sagt: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch?“ (Lk 17,21)

* * * * *

Keine Religion kann den Anspruch erheben, allein für alle wahr zu sein, wohingegen sie es für ihre Angehörigen ist und sein darf. Jede Religion sieht diese Welt als von Gott eingefärbt und lebt von einer Hoffnung auf das, was wir Reich Gottes nennen. Das Reich Gottes ist die Zusammenfassung all unserer Hoffnung.

Zuweilen machen wir Menschen die Erfahrung, daß all das, was unser bisheriges Leben ausgemacht hat, nicht wirklich alles sein kann. Irgendwann stoßen wir an unsere Grenzen.

Wir bemerken, daß unser Leben, so schön und erfüllt es über weite Strecken auch sein mag, letztlich nicht alles sein kann. Tief in unserem Herzen spüren wir eine Unerfülltheit, eine Sehnsucht nach Bleibendem und Beständigem. Wir Christen nennen es Ewigkeit.

Schlimmes können wir ertragen, wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben, daß mit dem Tod nicht alles aus ist.

Hoffnung auf Vollendung erlaubt den Mut zum Fragment. Nicht als Resignation, sondern als Realisierung einer Weisheit, die darauf setzt, daß der Horizont der Wirklichkeit weiter ist als die Grenzen des Sichtbaren. Als Kurt Koch noch Bischof von Basel war, meinte er, es müsse ein „spiritueller Prozeß der Demut, der Armut des Geistes, der Öffnung für Fremdes und Neues“ möglich sein. Diese Wahrheit will ich leben und denen künden, die sie hören wollen. So gehe ich mit Zuversicht den Jahren entgegen, die Gott mir noch schenkt.

Ich traue mich kaum, es zu bekennen: In den vielen Erlebnissen des Alltags mit ihren Zufällen, Synchronizitäten und Eingebungen fühle ich mich „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Diesen Inhalt möchte ich in der Form der Kirche leben und erleben, wohl wissend, daß es in einer anderen Konstellation auch möglich wäre.

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sagte in einem Gespräch:
„Denken Sie daran, als Sie ein Kind waren: Eine wunderbare Form des kindlichen Nachforschens und Nachdenkens waren doch Wörter, die man nur halb verstand. Genau da beginnen die Intelligenz und die Phantasmagorien zu reifen, weil man etwas halb versteht und dann eine Phantasiebrücke darüber baut. Wehe, man versteht alles. Wenn man alles versteht, ist nichts mehr übrig. Ich rede nicht davon, daß man absichtlich ständig ein völlig verschlossenes Geheimnis bilden soll; das Christentum ist eine Religion der Öffnung und der Zugewandtheit, das ist klar, aber es muß so etwas wie ein Geheimnis mitschwingen, das größer ist als wir, daß wir nicht ermessen können, daß uns aber erhebt, sodaß wir über unsere Seinsweise, die normalerweise sehr gedrückt ist und eng und kleinlich, hinausgeraten.“

Ich ende mit einem Gedichtvers aus den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke, der ein ausgeprägtes Gespür für das Transzendente im Immanenten, für das Jenseits im Diesseits hatte:
„Glücklich, die wissen, daß hinter allen Sprachen das Unsägliche steht;
daß, von dort her, ins Wohlgefallen Größe zu uns übergeht!“

und mit Satz des Religionssoziologen Tomáš Halik: „Ein reifer Glaube ist ein geduldiges Ausharren in der Nacht der Geheimnisse.“

Ich danke für Ihr Zuhören und wünsche Ihnen einen gedankenreichen Heimweg und eine traumreiche Nacht.