31. Sonntag im Jahreskreis B (4.11.2018)

Höre Israel!

Schriftstellen:
Erste Lesung: Dtn 6,2-6
Zweite Lesung: Hebr 7,23-28
Evangelium: Mk 12,28b-34

שְׁמַע יִשְׂרָאֵל – Sch’ma Jisrael – Höre, Israel!

Bis heute ist dieses Gebet der Mittelpunkt der jüdischen Liturgie, ein Gebet auch im Sterben. „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir weise werden.“ (Ps 90,12) Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen und mitten im Sterben sind wir vom Leben umfangen, vom EWIGEN LEBEN!

Christsein heißt: Mit Jesus leben, sterben und auferstehen!

Zum „Totenmonat“ November gehört das Thema Sterben. Das betrifft jeden von uns totsicher, früher oder später, nicht nur die anderen. Wir wissen, daß der Mensch stirbt, aber für uns selbst glauben wir es nicht.

In seinen „Pensées“ schreibt Blaise Pascal: „Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend, Unwissenheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken. Der Tod, an den man nicht denkt, ist leichter zu ertragen als der Gedanke an den Tod überhaupt.“

Wo liegt das Körnchen Wahrheit in diesem Irrtum? Es hat zwar den Anschein, daß wir sterben, aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Verwandlung. Als Christen sprechen wir von der Auferstehung. Nur, wer glaubt wirklich daran? Ist es nicht leichter zu sagen: „Mit dem Tod ist alles aus!“?

Rheinischer Merkur vom 30. Oktober 1992:
Nur noch 37% der Deutschen glauben an ein Weiterleben nach dem Tod,
41% sind vom Gegenteil überzeugt,
22% können keine Angabe darüber machen.

Wie sähen diese Prozentanteile heute aus?

Je mehr der Glaube an die Auferstehung abnimmt, desto mehr entstehen Ersatzreligionen und Pseudokulte. Ein Beispiel dafür ist der Glaube an die Wiedergeburt (Reinkarnation), auf welche Weise auch immer (sofort oder erst nach längerer Zeit, erneut als Mensch oder zunächst als ein „höheres“ oder „niederes“ Tier).

Wenn wir Ebenbilder Gottes sind, dann ist etwas Ewiges in uns. Und das bei aller Vergänglichkeit, die wir täglich an uns erleben. Wir sterben eigentlich unser ganzes Leben lang. Was wir Tod nennen, ist ebenso wie Empfängnis und Geburt nur ein besonderer Zeitpunkt.

Wir wissen nicht, wann ein Mensch stirbt und tot ist. In Bezug auf das Totsein hat man sich zur Zeit auf den Hirntod geeinigt, aber ganz tot ist der Mensch auch dann noch nicht; denn sonst könnte man ihm keine Organe zur Spende entnehmen.

Wir kennen aber auch nicht den Moment der Zeugung eines Menschen, diesbezüglich haben die Mediziner als Zeitpunkt die Verschmelzung von Samen und Eizelle festgelegt. Aber zuvor existieren wir schon als Wunsch unserer Eltern, und nach unserem Tod bleiben wir im Gedächtnis unserer Hinterbliebenen. Wir sind von Anbeginn ein Gedanke Gottes, der uns nach seinem Bild erschaffen hat. Im Sterben sind wir im Bilde.

Ist Geburt nicht das Sterben in einen Sarg hinein, den wir Leib nennen und Sterben das Geborenwerden zu einem uns verborgenen Leben, von dem wir vielleicht träumen? Wir leben in einer Zeit, in der Sterben und Tod verdrängt werden; beide sind tabu, obwohl wir das Töten und Getötetwerden fast pausenlos in den Medien erleben. Aber wer hat schon erlebt, wenn ein Mensch stirbt, oder hat ihn beim Sterben sogar begleitet?

Eine Anekdote aus Amerika: Opa ist gestorben. Als der Enkel das hört, fragt er sofort: „Wer hat ihn umgebracht?“

In unserer Gesellschaft gilt der Tod als pathologisch und nicht mehr als normal zum menschlichen Leben gehörig. Die staatliche Gesundheitsbehörde gestattet ihn nicht. Geburt und Tod finden im „Kranken“haus statt, obwohl es besser „Lebens“haus hieße. Das Begräbnis soll möglichst rasch und kurz über die Bühne gehen.

Es gibt eine deutliche Entwicklung zur Privatisierung von Tod und Trauer. Sie führt über die Ablehnung von Beileidsbekundungen am Grabe bis hin zum Begräbnis im engsten Familienkreis. Viele Todesanzeigen weisen nur noch auf die bereits erfolgte Beerdigung hin. Tendenzen, das Andenken an die Toten zu verdrängen, zeigen sich in der wachsenden Zahl von anonymen Bestattungen.

Die Evangelischen Räte für Ordenschristen und Priester lauten „Armut, Gehorsam und Jungfräulichkeit“. Sie gelten aber für alle Menschen; denn wir können nichts mitnehmen (Armut), müssen akzeptieren, daß wir sterben müssen (Gehorsam), und den letzten Weg geht jeder allein (Ehelosigkeit). Wie gehen wir mit einem solchen Wissen um?

Sterben und Tod haben ihre Geschichte. Nicht nur die ärztliche Kunst gibt beidem ein immer neues Gesicht, denken wir nur an die verschiedenen Definitionen des Todes. Sie reichen vom Atemstillstand über Herz- und Hirntod bis zum „Ganztod“. Auch der Wandel von Kultur und Gesellschaft führt unablässig ein fremdartiges Sterben und unbekannte Tode mit sich.

Es starb sich im frühen Mittelalter anders als im späten, vor der Pest von 1348 anders als danach, auf dem Land, wo Aussaat und Ernte, Werden und Vergehen einander ablösen, anders als in der Stadt, wo Gewinn kraß neben Verlust erscheint und Reichtum markant neben Armut, anders in einer Adelsgesellschaft als in einem Kloster.

Jeder einzelne Mensch macht sich seine eigenen Gedanken über Sterben und Tod. Aber all das gründet nicht auf eigener Erfahrung. Bestenfalls ist man beim Sterben eines lieben Menschen dabei, aber man bleibt Zuschauer. Das erlebte Adam schon beim Tod seines Sohnes Abel.

Wenn wir dem Tod eines lieben Menschen nicht ausweichen können, dann wird daraus nicht selten eine Totenverklärung. Das zeigt sich in Todesanzeigen und in Ansprachen am Grab. Nicht selten rücken sich die Angehörigen dabei ins rechte Licht. Wieviel Heuchelei geschieht am Grab, oft aus schlechtem Gewissen, was sich auch in aufwendiger Beerdigungs- und Grabgestaltung ausdrückt.

Dahinter verbirgt sich eine alte Angst vor der Rache der Toten. Bereits bei den Römer galt „mortuis nil nisi bene – Über die Toten soll man nur in guter Weise sprechen“.

Bestattungsarten aus vorgeschichtlicher Zeit zeigen, daß der Mensch sich bereits bewußt war, daß sein Leben mit dem Tod nicht völlig zu Ende ist. Der Grabstein sollte den Toten festhalten, damit er den Lebenden nicht als Wiedergänger schaden könne.

Im Ägypten der Pharaonen ist die Idee vom Weiterleben nach dem Tod vollkommen diesseits geprägt: Im jenseitigen Leben erfolgt im wesentlichen eine Fortführung des gewohnten Lebens. Deswegen muß der Leib auch durch Einbalsamierung erhalten bleiben.

Zu den weitreichenden Grundüberzeugungen der Menschheit gehört die Vorstellung eines Totengerichtes. Die alten Ägypter stellen den Gott Anubis mit der Totenwaage dar, und das Christentum zeigt den hl. Michael mit der Seelenwaage.

Jeder erlebt den Zwiespalt zwischen dem diesseitigen Tod und der jenseitigen Hoffnung; jeder versucht, eine Lösung für sich zu finden, und stirbt damit seinen eigenen einsamen Tod. Es kommt darauf an, ob man den Tod als Einschnitt ins Leben betrachtet und damit als dessen Widerpart oder als Teil des Lebens. Leben heißt sterben.

Klagen wir darüber, daß wir totsicher unserem Tod entgegengehen, oder bekommt dieses Ereignis auf Grund unseres Glaubens eine positive Sinngebung?

Junge sterbende Menschen trösten ihre Angehörigen, alte sterbende Menschen, die loslassen können, erbauen die Umstehenden. Wer hat an seinem Leben einen derartigen Anteil, daß der Tod keine Bedrohung mehr für ihn darstellt? Die meisten Menschen kämpfen gegen den Tod an, wie sie sich auch gegen andere Widerstände in ihrem Leben gewehrt haben.

In unserer Kultur betrachtet man das Leben als gerade Linie. Je länger diese ist, desto mehr glauben wir gelebt zu haben. Doch das ist ein Irrtum. Fügen wir unserem Leben also nicht nur mehr Jahre hinzu, sondern unseren Jahren mehr Leben; denn Gott will, daß wir das Leben in Fülle haben. Der Glaube an die Auferstehung ist Kernpunkt unseres Glaubens, ohne ihn wäre unser Glaube sinnlos.