Verlorener Sohn – barmherziger Vater
Schriftlesungen:
Erste Lesung: Jos 5,9a.10-12
Zweite Lesung: 2 Kor 5,17-21
Evangelium: Lk 15,1-3.11-32
„Sie sind alle noch am leben“, so lautet der Buchtitel von Paul Roth über die Gestalten der Bibel. So leben also auch noch der verlorene Sohn und auch der Daheimgebliebene aus dem heutigen Evangelium. Wo aber sind sie zu finden? Vielleicht in uns selbst?
Die Evangelien sind keine Protokolle aus dem Leben Jesu. Es sind Glaubenszeugnisse der ersten Christen. Was wollten sie bekennen, als sie die Gleichnisgeschichte des heutigen Evangeliums aufzeichneten?
Vermutlich war ihr Anliegen, mehr über den gütigen Vater zu sprechen als über den verlorenen Sohn. Insofern brauchen wir uns mit diesem Sohn nicht zu identifizieren. Er ist ja das schwarze Schaf der Familie, wohingegen wir schön zu Hause bleiben, ganz brav sind und uns nur über den Herumlungerer ärgern.
Schon Jesus wollte vermutlich mehr über den Vater aussagen. Dieser Perikope gehen die Gleichnisse vom verlaufenen Schaf und von der verlorenen Drachme voran. Der Form nach handelt es sich bei dem heutigen Gleichnis um eine zweigipflige Parabel:
Der erste Teil handelt vom jüngeren Sohn, der vom Vater sein Erbteil fordert, es in der Fremde verschleudert, reumütig heimkehrt und schließlich auf Grund der verzeihenden Liebe des Vaters mit offenen Armen wieder aufgenommen wird.
Der zweite Teil spricht von dem älteren Sohn, der auf diesen Empfang mit Eifersucht und Zorn reagiert.
Diese erzählerische Dynamik bietet dem Zuhörer mehrere Identifikationsmöglichkeiten. Dabei wird er behutsam in die Problemlösung der unbegreiflichen Barmherzigkeit des Vaters hineingeführt.
Ich habe vor Jahren eine Geschichte gelesen, in der noch von einem dritten Sohn die Rede ist, einem Nachkömmling. Nachdem nun der verlorene Sohn nach Hause gekommen ist, fragt er beide Brüder, wie er sich verhalten solle: Soll er gehen oder bleiben? Wir würden natürlich antworten, er solle auf jeden Fall bleiben.
Aber schauen wir uns den Daheimgebliebenen und seinen Bruder einmal an: Vom jüngeren Bruder heißt es lediglich: „Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.“ Es bleibt unserer Phantasie überlassen, wie er das gemacht hat. Der ältere Bruder erklärt: „... dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat...“ Woher weiß er das? Die Kommentatoren schmücken die Geschichte noch weiter aus.
Ein Priester sagte mir einmal: „Wenn ich auch als einer, der laufend über die Strenge schlägt, akzeptiert werde, dann bin ich ja dumm, wenn ich bleibe.“ Ich persönlich weiß gar nicht, ob ich den Mut hätte zu gehen. Und wie sieht es bei Ihnen aus?
Das heutige Gleichnis ist noch nicht zu Ende, es folgt der Höhepunkt. Die Geschichte gipfelt darin, die mögliche Reaktion der zuhörenden Pharisäer darzustellen. Jesus versucht, sie mit der Rede des Vaters an den eifersüchtigen, engherzigen älteren Bruder für seine Botschaft vom Erbarmen zu gewinnen.
Ob sich der ältere Sohn überzeugen läßt, erfahren wir nicht. In diesem offenen Schluß wird die Erzählung Jesu endgültig zur „unmittelbaren Anrede“ an die Zuhörer sowohl von damals als auch von heute.
Es folgt ein Perspektivwechsel, den Jesus uns in dem Gleichnis vom „barmherzigen Vater“ eröffnet: Für denjenigen, der seine engherzige, moralisierende Sichtweise ablegen und zu einer befreiten existentiellen Perspektive vorstoßen kann, wird das Reich Gottes auf Erden erfahrbar.
In diesem Gleichnis durchbricht der barmherzige Vater alle Konventionen seiner Zeit und alle Erwartungen der Beteiligten. Mit soviel Liebe, Offenheit und Entgegenkommen hat der jüngere Sohn wohl ebensowenig gerechnet wie die Zuhörer Jesu. Gerade dieses zunächst ungewöhnliche, befremdliche und doch so erlösende Verhalten des Vaters holt uns heraus aus unserer Alltagsperspektive und konfrontiert uns mit der Welt, dem Reich Gottes, das dort auf Erden anbricht, wo Gottes Liebe und Güte unsere menschlichen Verhaltensnormen überwindet.
Jesus läßt seine Zuhörer nicht stehenbleiben beim Staunen über Gottes Güte und Erbarmen, sondern konfrontiert sie noch einmal mit der konventionellen, der alten Lebensperspektive, personifiziert in der Figur des älteren Bruders.
Hier liegt die eigentliche Sinnspitze des Gleichnisses: Jesus will erfahrbar machen, daß die Liebe des Vaters uns ungeschuldet und unverdient immer zuvorkommt. Dies zeigt er im Gleichnis an zwei elementaren Lebenshaltungen:
a) Für denjenigen, der sich unabhängig macht von der Liebe, verdeutlicht sich in der Person des jüngeren Bruders, daß ein solcher Weg unmöglich ist, weil der Vater ihn nicht herausfallen läßt aus seiner Liebe.
b) Demjenigen hingegen, der glaubt, sich die Liebe des Vaters durch konformes Verhalten verdienen zu müssen, macht Jesus in der Person des älteren Bruders klar, daß eine solche Haltung zwangsläufig zu Unzufriedenheit und Verlustängsten führt, die nur überwunden werden können, wenn man sich öffnet für das Geschenk der voraussetzungslosen Annahme durch Gott. Jesus wirbt mit seinem Gleichnis für einen Perspektivwechsel, der uns hinüberführt von einer engherzigen, moralischen Sichtweise hin zu einer befreienden existentiellen Sicht, wie Jesus selbst sie am Jordan erfahren hat.
Damals hat er selbst den Perspektivwechsel vollzogen von der moralisierenden Bußpredigt des Täufers hin zu der Erfahrung des geöffneten Himmels: „Du bist mein geliebtes Kind.“ (Mt. 3,17) Heute dürfen wir uns eingeladen wissen, den Blick für diesen geöffneten Himmel zu gewinnen, der uns spüren läßt, daß wir Kinder Gottes sind und bleiben. Darin liegt das göttliche Erbarmen. Das hebräische Wort rächäm רֶחֶם für Erbarmen ist abgeleitet vom Wort „Mutterschoß“ und bedeutet unzerstörbare Verbundenheit der Mutter mit ihrem Kind, das ihrem Leib entspringt und deshalb immer ein Stück ihrer selbst ist und bleibt.
So hören wir beim Propheten Jesaja über das göttliche Erbarmen: „Vergißt wohl eine Frau ihren Säugling, hört eine Mutter auf, ihren eigenen Sohn zu lieben? Und wenn sie ihn vergäße, ich, dein Gott, vergesse dich nicht.“ (Jes 49,15) Es mag für Gott selbst gelten, daß er uns vorbehaltlos und bleibend annimmt, doch unsere menschlichen Verhaltensregeln für das Miteinander müssen doch andere sein.
Entscheidend ist im Gleichnis die Grundhaltung des Vaters: Er ist fähig, sein Kind loszulassen, es in die Fremde ziehen zu lassen, wo es, ganz auf sich allein gestellt, seine eigenen Erfahrungen macht. Die Fähigkeit solchen Loslassens findet dann ihr Pendant in der Wiederaufnahme des Kindes. Der Vater rechnet nicht auf; denn seine Liebe gilt dem Kind als eigenständiger Person.
So kennt dieser Vater keinen verletzten Stolz, keine gekränkte Eitelkeit und keine Infragestellung der eigenen Identität durch das gesellschaftliche Scheitern des Kindes. Wenn wir selbst uns einlassen auf die vorbehaltlose Liebe Gottes, fällt es uns womöglich leichter ebenso vorbehaltlos unsere Kinder und unsere Nächsten zu lieben, auch wenn sie sich von uns abkehren und andere, uns fremde Wege gehen.