Ein Heiliger ist ein Sünder, der immer wieder neu anfängt
Schriftstellen:
Erste Lesung: Offb 7,2-4.9-24
Zweite Lesung: 1 Joh 3,1-3
Evangelium: Mt 5,1-12a
„Allerheiligen“ heißt der heutige Tag, weil wir an alle Verstorbenen denken, die nicht offiziell von der Kirche selig- oder heiliggeprochen sind. Während man bei Papst Johannes Paul II. in Bezug auf seine Heilig- und Seligsprechungen leicht den Überblick verlor, hat Papst Franziskus uns ein Apostolisches Schreiben geschenkt mit dem Titel: „Gaudete et Exsultate“ – ÜBER DEN RUF ZUR HEILIGKEIT IN DER WELT VON HEUTE. Demnach ist jeder zur Heiligkeit berufen. Man muß kein moralischer Supermensch sein, sondern jeder kann völlig unabhängig von Beruf und Familienstand ein Heiliger sein. Aber wo sind die Heiligen im Alltag?
Es schreckt ab, wenn man an die kitschigen Darstellungen der Heiligen denkt. Karl Leisner war erstaunt, wie Franz Schmäing, der damalige Direktor des Collegium Borromaeum in Münster, den hl. Aloisius dargestellt hat:
„Wohl kein Heiliger kann sich so über seine Biographen beklagen wie gerade er. Aus einem willensmächtigen und selbststrengen jungen Mann wurde eine unnatürliche, kitschige Heiligengestalt. Daß er manchmal sogar seine Mutter nicht einmal angeschaut habe, ist aus der losen und gemeinen Mode der Weltdamen von damals zu erklären ( Gemäldegalerien!). Diese ganz stramme und willensgespannte Selbstzucht wollen wir von ihm lernen.“
Auch der kleinen heiligen Theresia vom Kinde Jesu wurde das Mißgeschick zuteil, daß ihre Oberen, die ihre leiblichen Schwestern waren, ihre Aufzeichnungen verfälschten. Ähnliches geschah Anne Frank, deren Tagebuch ihr eigener Vater durch Kürzungen veränderte.
Heilig- oder Seligsprechungen von Ehepaaren sind eher selten. Jungfrauen und Kleriker vom Bischof aufwärts haben eine Chance. Der Pfarrer von Ars hat es als Pfarrer geschafft und Karl Leisner als Neupriester.
„Wandle vor mir und sei ganz!“ (Gen 17,1), sagte Jahwe zu Abraham. Das könnte Gott auch denen, die wir als Heilige verehren, gesagt haben. Gemeint ist mit dem hebräischen Wort „tamim" weniger Rechtschaffenheit oder Untadeligkeit, wie die Einheitsübersetzungen der Heiligen Schrift nahelegen, als vielmehr Vollständigkeit, Ganzsein. Ganz ist derjenige, der ungeteilt, nicht gespalten oder nicht zerrissen ist. Ganzsein bedeutet, mit sich einig, das heißt frei von Zwiespalt, zu sein. Die Forderung Jesu meint also nicht ein Entweder – Oder, sondern ein Sowohl – Als-auch. Vollständigkeit beinhaltet die Polarität des Lebens, die Tatsache, daß es das eine und das andere gibt.
Der Mensch neigt dazu, aus der Polarität seines Lebens einen Pol auszuwählen und den anderen Pol abzuspalten. Heilige sind ein Beispiel dafür, wie man die Pole in sich vereinen kann.
Parzival hatte, um Gralskönig zu werden, in allen Kämpfen einen Sieg errungen. Dann begegnete ihm sein Halbbruder Feirefiz. Diesen konnte er nicht besiegen. So mußte er eine letzte Lektion lernen: Der Gral läßt sich nicht durch Bezwingen der Feinde, sondern nur durch Versöhnung mit diesen erringen.
Dabei kann es sich um einen äußeren Feind handeln, aber auch um die dunkle Seite im Menschen, die schwer anzunehmen ist und mit der sich zu versöhnen nicht leicht ist.
Wer wie Parzival sein will, mußt sich mit dem Dunklen in seinem Innern aussöhnen, statt es auf andere zu projizieren und dort zu bekämpfen.
Am Tempel des Apoll in Delphi war in der Antike deutlich und für alle sichtbar ein kurzer und markanter Spruch zu lesen: Γνῶθι σεαυτόν - Gnothi seauton - Erkenne dich selbst!
Selbsterkenntnis als tägliche Übung sollte die Basis sein für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt.
Karl Leisner gab sich große Mühe, sich selbst zu erkennen. Oft zitierte er den griechischen Spruch in seinen Tagebüchern. Wie Parzival sich mit seinem dunklen Halbbruder, der ihm als Feind entgegentrat, versöhnte, so tat es Karl Leisner auf dem Sterbebett sozusagen in einem Schlußakkord mit all denen, die ihn vernichten wollten: „Segne auch, Höchster, meine Feinde!“, schrieb er als letzten Eintrag vor seinem Tod in sein Tagebuch. Parzival wurde Gralskönig,
Karl Leisner dürfen wir als Seligen verehren.
Es ist falsch, für seinen Schatten einen Sündenbock zu suchen, der dann in die Wüste geschickt wird, ebenso ist es falsch, seine Sehnsucht nach Vollkommenheit auf die Heiligen zu projizieren. Sie können uns Orientierung geben, mit unseren Schwächen umzugehen, vollständig zu werden und den Kompaß unserer Sehnsucht neu auszurichten.
„In jedem von uns steckt ein kleiner Hitler und ein kleiner Gandhi.“ (Elisabeth Kübler-Ross) Wem geben wir die Chance, sich zu entwickeln?
„Wandle vor mir und sei ganz!“